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Neonazis hinter Gittern

Griechische Polizei nimmt Abgeordnete und Funktionäre der neofaschistischen Partei »Chrysi Avgi« fest. Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung

Von Heike Schrader, Athen *

Insgesamt 21 Abgeordnete und Funktionäre der neofaschistischen Partei »Chrysi Avgi« (Goldene Morgendämmerung) sind am Samstag in Griechenland festgenommen worden. Bei ihrer Vorführung gestand der Haftrichter ihnen bis Dienstag bzw. Mittwoch Bedenkzeit zu, erst dann wird eine Entscheidung fallen, ob sie in Untersuchungshaft genommen werden. Die Zeit bis dahin müssen der »Führer« der Partei, Nikos Michaloliakos, und seine Mitbeschuldigten in der Athener Polizeizentrale verbringen. Am Sonntag vormittag stellte sich auch der in der Anklage als »Stellvertreter von Michaloliakos« bezeichnete Parlamentsabgeordnete Christos Pappas der Polizei, nachdem er sich am Samstag zunächst abgesetzt hatte. Nach etwa zwei Dutzend anderen Funktionären der neofaschistischen Partei wird weiter gefahndet. In der Nacht zum Sonntag nahm die Polizei drei weitere Männer unweit der Parteibüros im östlich von Athen gelegenen Loutsa fest. In ihrem Auto wurden Helme, Knüppel und Schilder mit dem Mäander-Symbol der Chrysi Avgi sichergestellt.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Festgenommenen vor, Mitglied einer »seit 1987 agierenden kriminellen Vereinigung« zu sein. Zu den von dieser verübten Verbrechen zählt die Anklage den Mord an dem Antifaschisten und Musiker Pavlos Fyssas am 18. September, die im Januar erfolgte Ermordung des pakistanischen Immigranten Sahzat Lukman im Athener Stadtteil Petralona, den Mordversuch an einem ägyptischen Fischer im Sommer 2012 in einem Küstenort westlich von Athen sowie weitere Mordversuche, Fälle von Körperverletzungen, Bombenanschläge, Erpressung und Geldwäsche.

Die griechische Linke begrüßte die Polizeiaktion. Die Justiz müsse »ohne weitere Verspätungen, mit Besonnenheit und Respekt für die geltenden Gesetze« bei der Aufklärung »des Mordes an P. Fyssas und einer Reihe anderer verbrecherischer Taten« voranschreiten, forderte die SYRIZA in einer Stellungnahme. »Die Interessen, die die Taten der Chrysi Avgi hervorgebracht, gestützt und gelenkt haben, bleiben bestehen«, kommentierte indes der Presseverantwortliche der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), Giannis Gkiokas, die Entwicklungen. »Es sind dieselben Interessen, die mit allen Mitteln die Bewegung der Arbeiter und des Volkes bekämpfen.«

Es ist das erste Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1974, daß in Griechenland amtierende Abgeordnete festgenommen wurden. Aufgrund der Natur der ihnen vorgeworfenen Delikte können sich die Parlamentarier nicht auf die ihnen sonst zustehende Immunität berufen. Sie behalten nach griechischem Recht jedoch zumindest vorläufig ihr Mandat. Im Falle eines späteren gerichtlichen Entzugs oder des von der Partei angedrohten Rücktritts ihrer Parlamentarier würden die Sitze nicht, wie jW irrtümlich gemeldet hatte, mit Nachrückern aus anderen Parteien besetzt. Für die vakanten Sitze müßten vielmehr Nachwahlen stattfinden. Ministerpräsident Andonis Samaras will aber prüfen lassen, ob in diesem Fall ein »Mißbrauch des Mandats« vorliegt. Dann würde der Abgeordnetensitz ersatzlos ruhen. Umfragen zufolge müßten die Faschisten zudem damit rechnen, bei einer Nachwahl alle ihre Sitze einzubüßen. Gleichzeitig will die Regierung am heutigen Montag im Parlament eine Gesetzesinitiative einbringen, durch die die staatliche Finanzierung von Parteien gestoppt werden soll, »bei denen Mitglieder schwerer Verbrechen beschuldigt sind«.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. September 2013


»Vom Staat erwarte ich nichts«

Beschäftigter einer besetzten Fabrik in Griechenland über die Krise und die Zukunft seines Unternehmens *


Alexandros Sideridis ist einer von etwa 40 Beschäftigten, die in Thessaloniki im Norden Griechenlands die Fabrik VIO.ME (Viomichaniki Metalleftiki) besetzt haben. Die Firma stellte chemische Baumaterialien wie Fugenkleber her und lieferte ihre Produkte auch ins benachbarte Ausland. Ab Mai 2011 zahlten die Eigentümer jedoch keine Löhne mehr. Schrittweise drosselten sie die Produktion und gaben das Unternehmen auf. Im Februar dieses Jahres kehrten die Arbeiter zurück und betreiben das Werk in eigener Regie. Sie stellen umweltfreundliche Reinigungsmittel her, die in sozialen Zentren und auf informellen Märkten vertrieben werden. Zum Leben als Besetzer befragte John Malamatinas Sideridis für »nd«.


Die gegenwärtige Wirtschafts- und soziale Krise und das selbstverwaltete Projekt VIO.ME – wie haben diese zwei Sachverhalte Ihr Leben verändert?

Das alles hat mein Leben sehr verändert. Bevor uns die Besitzer der Fabrik verlassen haben, hatten wir alle einen Job mit stabilem Einkommen. Alle haben ihr Ding gemacht, mit dem Gedanken, dass das Leben so weitergehen wird. Aber leider war dem nicht so. Es lohnt sich nicht mehr, an jemanden Großen zu glauben, wie schön seine Worte auch klingen mögen. Es seien alles nur kleine Probleme gewesen, die wir angeblich hätten meistern können, sagten die damaligen Besitzer von VIO.ME. Das Gegenteil war der Fall.

Hat sich die Entwicklung auch auf Ihre Familie ausgewirkt?

Bis jetzt haben wir immer noch das Recht auf die gesetzliche Krankenversicherung. Ab 2014 werden wir aber ein Problem haben. Rente erwarte ich keine. Meine Familie und ich sind gezwungen, unseren Lebensstandard herunterzufahren. Unser Auto benutzen wir nur noch für familiäre Angelegenheiten. Zur Arbeit fahre ich nur noch mit dem Bus. Eine meiner Töchter, die an der theologischen Fakultät Thessalonikis studiert, kann nicht bei uns ausziehen, da das Geld nicht reicht. Das ist ein großer Rückschritt. Meine zweite Tochter steht vor ihrem Abitur. Sie bekommt den in Griechenland notwendigen privaten Zusatzunterricht nur durch die Hilfe solidarischer Menschen, die Unterricht kostenlos anbieten.

Auch unsere Einkäufe fallen im Vergleich zum Alltag vor der Krise geringer aus. Allgemein ist alles knapper geworden und wir müssen mit sehr wenig Geld auskommen. Zum Glück hat meine Frau noch Arbeit. Aber du weißt nicht, wie der nächste Tag aussieht. Und das liegt vor allem am Staat, in den du kein Vertrauen mehr hast.

Erwarten Sie als Beschäftigter bei VIO.ME Unterstützung für Ihr Projekt seitens des griechischen Staates?

Ich persönlich erwarte nichts. Wir haben uns sehr oft mit Vertretern des für uns zuständigen Ministeriums für Arbeit getroffen. Aber bisher gab es nur leere Worte. Natürlich wissen wir, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass solch eine Regierung (aus Konservativen und Sozialdemokraten - d. Red) einen Gesetzesentwurf zu Kooperativen wie unserer verabschiedet – das heißt, die Besetzung legalisiert und die alten Kapitalisten illegalisiert.

Wie hat sich das Verhältnis unter den Kollegen entwickelt?

Wir reden oft von einer neuen Familie, die entstanden ist. Für unser gemeinsames Ziel müssen wir uns miteinander abstimmen. Wir müssen in schlechten und guten Zeiten als Familie funktionieren. Wir haben mit dem Schlimmsten angefangen, sind immer noch zusammen und ich möchte glauben, dass wir zu guten Zeiten weiterhin zusammen sein werden.

Was sagt Ihr Freundeskreis zu Ihrem Vorhaben? Gab es Begeisterung oder Kopfschütteln?

Das Erste, was wir hörten, war: »Ihr seid verrückt!« Aber wissen Sie, was das Verrückteste ist? Jeder Arbeiter im Land kommt an die Reihe und die Krise klopft auch an seine Tür. Jeder denkt mittlerweile darüber nach zu kämpfen – wir sind nicht mehr so verrückt. Viele Freunde von mir haben in den letzten sechs Monaten ihren Lohn nicht erhalten. Das Problem ist, dass sie nur darüber nachdenken, wie sie an ihr Geld kommen.

Mit wie viel Geld müssen Sie zur Zeit auskommen? Können Sie von der Arbeit bei VIO.ME leben?

250 Euro bekomme ich von VIO.ME, genauso viel wie jeder andere Arbeiter. Vom Lohn meiner Frau bleiben 400 Euro übrig. 650 Euro müssen also für mich, meine Frau und unsere Kinder für einen Monat zum Überleben reichen. Wie bei der Arbeit gilt auch in unserer Familie, dass wir zusammenhalten. So unterstützt meine Familie das Projekt. Auch sie sehen keine andere Alternative. Viele Menschen in unserem Umfeld wissen von unserem Versuch und fragen unsere Kinder: »Wie habt ihr es geschafft, die Besitzer der Fabrik zu vertreiben?«

Wie ist das Leben und die Arbeit ohne Chefs?

Früher gab es einen Chef, jetzt sind wir 40 Chefs (lacht). Ich glaube, wir können es wirklich ohne Chefs schaffen. Mit guter Kommunikation, Entschlossenheit und etwas Gelassenheit, was unseren Egoismus angeht, können wir unser Ziel der Selbstverwaltung erreichen. Der klassische Chef entscheidet alles allein. Hier aber entscheiden wir zusammen, und das ist eine viel stärkere Entscheidung. Ich hoffe, dass wir die Krise überstehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wer das organisieren soll. Müssen wir immer glauben, was die Regierenden uns sagen? Bis jetzt waren es alles Lügen. Meiner Meinung nach sollten wir Menschen uns mehr bewegen, von unseren Sofas aufstehen und den Fernseher vom Balkon schmeißen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 30. September 2013


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