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Exarcheia, das Kreuzberg Athens

Die tödlichen Schüsse auf einen 15-Jährigen haben ein Stadtviertel ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt, das sonst kaum von Touristen besucht wird

Von Anke Stefan, Athen *

Das Viertel liegt im Herzen der Hauptstadt und trotzdem verirren sich selten Touristen hierher. Exarcheia -- der Name geht auf ein im 19. Jahrhundert hier eröffnetes Handelshaus zurück -- grenzt an Kolonaki, ein von Boutiquen, Cafés und anderen Konsumtempeln beherrschtes Einkaufsviertel der Gutbetuchten. Nicht weit entfernt liegt der Syntagma-Platz mit dem Parlament, an den sich die Plaka, die Touristen wohlbekannte Altstadt mit ihren ungezählten Souvenirläden im Schatten der Akropolis anschließt. Doch Exarcheia fehlen sowohl die prächtigen Schaufenster als auch die antiken Sehenswürdigkeiten.

Nicht dass »der Kiez der Widerständigen« ein geschichtsloser Ort wäre. Das zwischen drei Universitäten und dem ehemaligen Gerichtsgelände liegende traditionelle Buchhändler-, Rechtsanwälte- und Studentenviertel hat in der Geschichte sogar mehrfach eine wichtige Rolle gespielt. Nur eben nicht in der Antike, sondern in der von Touristen meist vernachlässigten jüngeren Geschichte.

Von jeher Hochburg des Widerstands

Während der Besetzung Griechenlands durch die Wehrmacht des faschistischen Deutschlands war Exarcheia eine Hochburg der kommunistisch geprägten Wider-standsarmee ELAS. Am Polytechnikum etwa leitete der spätere Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), Grigoris Farakos, im Rang eines Hauptmanns die dortigen ELAS-Einheiten. Auch die Professoren waren mehrheitlich auf der Seite des Widerstands. Die Gestapo wagte sich gar nicht erst ins Polytechnikum.

Im Bürgerkrieg 1946-49, der auf die Befreiung folgte, bot das Stadtviertel den in die Illegalität getriebenen Kommunisten Schutz und Unterschlupf, unter anderem im heute von Studierenden als Schlafplatz genutzten »Kellerpalast« an der Nordwestseite der Plateia. Bis heute sind an mancher Fassade die Einschüsse aus den Kämpfen um die Hauptstadt zu sehen.

Auch im Widerstand gegen die Militärdiktatur von 1967 bis 1974 war man in Exarcheia höchst aktiv. Der Studentenaufstand im Sommer 1973 an der Juristischen Hochschule, vor allem aber der drei Tage währende Aufstand im Athener Polytechnikum im November 1973 gelten als Auslöser für den Fall des Obristenregimes. Alljährlich nehmen Zehntausende an der Demonstration zum Gedenken an das Massaker im Polytechnikum teil. Die Panzer der Militärjunta hatten am 17. November 1973 die von Studierenden und Arbeitern unter der Parole »Brot, Bildung, Freiheit, Unabhängigkeit« geführte Besetzung der Universität blutig beendet. Seit dem Ende der Militärdiktatur gilt deshalb in ganz Griechenland das Universitätsasyl. Polizisten dürfen das Gelände nur mit dem Einverständnis eines Gremiums aus Professoren, Hochschulleitung und Studierenden betreten. Ein solches Einverständnis hat es bisher jedoch nie gegeben.

Polizei und Medien arbeiten nicht erst seit den jüngsten Ereignissen, sondern schon seit vielen Jahren Hand in Hand daran, Exarcheia als gefährliches Viertel zu diffamieren, vor dessen Betreten gewarnt wird, weil dort »blinde Gewalt« und »organisierte Kriminalität« herrschten. Gerne zeigt man im Fernsehen, wie nach großen Demonstrationen vermummte Gestalten vom Gelände des Polytechnikums Brandflaschen auf Sondereinheiten der Polizei werfen. Nicht gezeigt wird, dass Polizisten vorher so lange Tränengasgranaten in die im Uni-Asyl eingekesselte Menge schießen, bis einigen drinnen der Kragen platzt. Zur Neutralisierung des Tränengases in Brand gesetzte Müllcontainer müssen dann regelmäßig als Beweise für Vandalismus herhalten.

Politische Losungen statt Werbeplakaten

Eine ganze Reihe der ungefähr 40 linken Parteien und Organisationen Griechenlands haben ihre Büros noch immer in Exarcheia. Vertreten sind auch die Veteranen des Widerstands gegen die Nazis und das Griechische Komitee für Frieden und Entspannung. Geprägt wird das Viertel heute jedoch eher von den ebenso zahlreichen anarchistischen oder libertären Gruppen, die hier ihre Stadtteilläden - griechisch Stekia - haben.

Während in anderen Stadtvierteln Werbeplakate und Konzertankündigungen das Bild bestimmen, dominieren hier politische Plakate und gesprühte Parolen, meist mit der Forderung nach Freiheit für inhaftierte Genossen. Eine der neuesten, gesprüht nach der Erschießung von Alexis Grigoropoulos, lautet: »28 Milliarden Euro für die Banken, Kugeln für die Jugend«. Daneben die Festtagswünsche: »Merry Crisis and Happy New Fear«.

Berührungsängste zwischen »normalen« Bewohnern und den »antiautoritären Staatsfeinden« gibt es jedoch nicht. Im Gegenteil. Beim Kampf um den Erhalt der traditionellen Cafés oder Tavernen, die in ganz Athen mehr und mehr den Filialen internationaler Fastfoodketten weichen müssen, oder beim freiwilligen Einsatz zur Gestaltung von Grünflächen arbeiten sie Hand in Hand. So wurde die Straße Tzavella, in der die tödlichen Schüsse fielen, in freiwilliger Arbeit des Initiativkomitees der Bewohner durch Grünpflanzungen zu einer der schönsten Flaniermeilen des ganzen Viertels herausgeputzt. Und es sind die Anarchisten, die dafür sorgen, dass der in der angrenzenden Gegend um den Omonia-Platz verbreitete Drogenhandel und die dazugehörige Prostitution in Exarcheia weitgehend eingedämmt wurden. Es ist ein offenes Geheimnis im Viertel, dass die Junkies aus anderen Teilen der Stadt nach Exarcheia vertrieben wurden. Heute findet man die meisten in der Fußgängerzone zwischen dem Polytechnikum und dem Archäologischen Museum. Direkt neben der Polizeiwanne, die zum ständigen Schutz des nahe gelegenen Kulturministeriums abkommandiert wurde.

Inmitten des Athener Großstadtchaos wirkt Exarcheia mit seinen etwa 36 000 Einwohnern fast beschaulich. Einer der wenigen Stadtteile, die sich die Kennzeichen eines von Nachbarschaft geprägten Viertels erhalten haben. Man kennt und grüßt sich auf der Straße oder in einem der zahlreichen kleinen Läden, Tavernen, am Zeitungskiosk. Oder trifft sich zum »Schnack« in einer der Verlagsbuchhandlungen, die sich in vielen Jahrzehnten rund um die Universitäten angesiedelt haben. Und zwar egal ob man im traditionellen Schwarz der Witwe oder dem ebenso traditionellen schwarzen Kapuzenpulli des Anarchos gekleidet ist. Im Kafeneion, direkt an der Plateia, trinken der 50-jährige Rechtsanwalt oder der gleichaltrige Buchhändler ihren griechischen Mokka in trauter Gemeinschaft mit ihrem dreißig Jahre jüngeren anarchistischen Nachbarn. Und wenn die Diskussionen besonders heftig werden, geht es meist nicht etwa um Tagespolitik, sondern um »König Fußball«, Lieblingsthema der griechischen Männergesellschaft auch in Exarcheia.

Wenn im Viertel dennoch nicht etwa schwarz gekleidete Alternative, sondern grün uniformierte Beamte von Sondereinheitskommandos das Bild bestimmen, so stößt dies keineswegs auf die Zustimmung der Bewohner. Statt nach jeder Demonstration die Anarchisten durch das Viertel zu prügeln, sollte sich die Polizei lieber selbst um die Drogendealer kümmern, meint man hier. Die würden von den Ordnungshütern nämlich meist in Ruhe gelassen.

»Als lebten wir im Gaza-Streifen«

Am 16. Dezember, während der von Demonstrationen und Auseinandersetzungen geprägten Tage, forderten mehr als 1500 Bewohner des Viertels, darunter viele Intellektuelle und Künstler, den Abzug der Polizei aus dem Kiez. Für das Initiativkomitee der Bewohner ist die Polizei das größte Problem im Viertel. »Wir verstehen diese Präsenz nicht. Das Viertel hat die geringste Kriminalitätsrate in ganz Athen«, hieß es bei der Demonstration. »Sogar nach dem Mord gibt es Polizisten, die sich -- besonders jungen Frauen gegenüber -- unangemessen verhalten. Wir fordern ein weiteres Mal, dass sie verschwinden. Es kann nicht sein, dass wir nach Hause gehen und uns fühlen, als lebten wir im Gaza-Streifen.«

Die tödlichen Schüsse eines Polizisten auf den 15-jährigen Schüler Alexis Grigoropoulos waren nicht die ersten in der jüngsten Geschichte. Im Anschluss an die Demonstration zum Jahrestag des Massakers im Polytechnikum erschoss die Polizei 1985 direkt an der Plateia von Exarcheia den 15-jährigen Schüler Michalis Kaltezas bei dem Versuch, einen Brandsatz auf einen Polizeibus zu werfen. Der Täter wurde freigesprochen.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Dezember 2008


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