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Griechenland hat 700.000 Jobs im Mittelstand verloren

Athen will Stromnetzbetreiber nicht verkaufen / Berlin verlangt Massenentlassungen in Griechenland / SYRIZA-Regierung beantragt neuen IWF-Kredit / Gespräche über ESM-Programm verzögern sich *


Update 21.45 Uhr: OXI-Proteste bei St. Pauli-Spiel
Beim 0 zu 0 des FC St. Pauli gegenAufsteiger Arminia Bielefeld haben Zuschauer Solidarität mit Griechenland gezeigt und die Politik der Bundesregierung gegen die SYRIZA-geführte Regierung kritisiert. Fans zeigten »OXI«-Schilder, die auf das Nein der Griechen beim Referendum gegen die Gläubiger-Politik anspielten. Über den Bundesfinanzminister waren Transparente zu lesen wie: »Germany you Piece of Schäuble« und »Still hating Germany« sowie »Solidaritäy with Greece«. Die Ostwestfalen kamen beim Spiel gegen den FC St. Pauli zu einem unentschieden. Nach einem fast neun Jahre dauernden Umbau stand das Millerntorstadion erstmals mit dem Rekordfassungsvermögen von 29.546 Zuschauern zur Verfügung. Die Arena war erwartungsgemäß ausverkauft.

Update 21.25 Uhr: Griechenland hat 700.000 Jobs im Mittelstand seit 2008 verloren
In Griechenland mussten in den vergangenen sieben Jahren rund 229.000 kleine und mittlere Betriebe schließen, rund 700.000 Arbeitsplätze gingen dabei verloren. Das berichtet die Athener Zeitung »Kathimerini« unter Berufung auf eine Studie des Zentrums für Planung und Wirtschaftsforschung (KEPE). Als Ursache werden zwar nicht allein die Krise in Griechenland und der beschränkte Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten bei Banken genannt. Aber die Krise habe die strukturellen Probleme kleiner und mittlerer Unternehmen in Griechenland noch verstärkt, heißt es in dem KEPE-Bericht - vor allem wegen der hohen Abhängigkeit dieser Betriebe von der Inlandsnachfrage, die durch die von den Gläubigern verlangten Kürzungsmaßnahmen, durch Jobabbau und Verarmung eingebrochen ist, sowie wegen der fehlenden Mittel für Investitionen in international konkurrenzfähige Produkte und Dienstleistungen. Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen ist nach Schätzungen der Europäischen Kommission seit 2008 um 26,6 Prozent zurückgegangen. Auch wird ein Verlust an Wertschöpfung im KMU-Sektor um etwa 40 Prozent angegeben - waren es 2008 noch 55 Milliarden Euro, fiel der Wert bis 2014 auf 32,8 Milliarden Euro. Die Beschäftigung im Mittelstand ist damit um über 29 Prozent geschrumpft.

Update 17.40 Uhr: Athen will Stromnetzbetreibers nicht verkaufen
Die SYRIZA-geführte Regierung will während der anstehenden Verhandlungen mit den Gläubigern nach Alternativen für eine Privatisierung des staatlichen Stromnetzbetreibers ADMIE suchen. Dies sagte der griechische Energieminister Panos Skourletis der Zeitung »Agora«. ADMIE ist Teil des Stromanbieters PPC, an dem der griechische Staat mit mehr als 50 Prozent beteiligt ist. Hinter dem Vorhaben stecke die Absicht, »den öffentlichen Charakter von PPC sowie von Unternehmen von strategischer Wichtigkeit zu bewahren« fügte der Minister hinzu. Die Rolle von PPC sei unbezahlbar, sagte Skourletis, der bis zu einer Kabinettsumbildung am 17. Juli als Arbeitsminister tätig war. Griechenland hatte den Gläubigern in den Gesprächen über ein neues Kreditprogramm auch Privatisierungen zusagen müssen. Durch den Verkauf und die Verpachtung von Immobilien und Staatsunternehmen sollen 50 Milliarden Euro erlöst werden - der größte Teil davon fließt nicht in die Staatskasse, sondern an die Gläubiger und in die Banken.

Berlin verlangt Massenentlassungen in Griechenland

Berlin. Die Bundesregierung fordert noch mehr Massenentlassungen in Griechenland. Wie der »Spiegel« unter Berufung auf die Antwort des Bundesfinanzministeriums berichtet, zählt der Parlamentarische Staatssekretär Jens Spahn von der CDU darin auf, welche Maßnahmen die SYRIZA-geführte Regierung »im Bereich der Arbeitsmärkte in Griechenland insbesondere« ergreifen müsse - dann sind ausdrücklich »Massenentlassungen nach dem mit den Institutionen vereinbarten Zeitplan und Ansatz« aufgeführt. Spahn beruft sich dabei auf die Absprache der Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten.

Bereits die bisherigen Auflagen der Gläubiger, so genannte Memoranden, hatten zu einem erheblichen Anstieg der Erwerbslosigkeit geführt - und zu einer Verdoppelung der Zahl der Armen seit 2009. »Im Basisjahr 2005 galt in Griechenland als arm, wer pro Jahr weniger als 6.450 Euro einnahm. Gemessen an diesem Grenzwert ist die Armutsquote von Beginn der Troika-Intervention bis 2013 von 16,2 Prozent auf 40,0 Prozent gestiegen. Dabei gibt nicht nur mehr Arme, sondern die Armen sind auch ärmer geworden. So betrug ihr Durchschnittseinkommen 2008 noch 4.551 Euro pro Jahr, während es bis 2012 auf 3.600 Euro gefallen ist«, heißt es in einer Übersicht der Linksfraktion.

Derweil hat die SYRIZA-geführte Regierung in Griechenland beim Internationalen Währungsfonds einen neuen Kredit mit einer dreijährigen Laufzeit beantragt. Der IWF bestätigte am Freitagabend den Eingang eines entsprechenden Schreibens aus Athen. Der Brief an IWF-Chefin Christine Lagarde war zuvor vom griechischen Finanzministers Euklid Tsakalotos publik gemacht worden. Formell läuft der IWF-Kredit noch bis 2016, die Beantragung eines neuen war deswegen eigentlich nicht notwendig. Offenbar ging es Athen mit dem Schreiben an die »liebe Generaldirektorin des IWF« Beobachtern zufolge um eine politische Geste.

Athen hatte wegen der drakonischen »Strukturanpassungsprogramme« des IWF immer wieder Vorbehalte gegenüber einer Beteiligung des Währungsfonds an künftigenKrediten geäußert. Beim jüngsten Euro-Sondergipfel am 13. Juli scheiterte die griechische Regierung jedoch vor allem an Deutschland mit ihrem Ansinnen, den IWF an einem dritten Paket nicht mehr zu beteiligen. Einig sind sich IWF und die von Alexis Tsipras und seiner SYRIZA-Partei geführte Regierung allerdings in der Forderung nach einer Schuldenerleichterung für Griechenland. Die europäische Statistikbehörde Eurostat hat Hellas' Schuldenlast zuletzt mit etwa 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angegeben.

Der IWF erklärte, mit der griechischen Regierung und den europäischen Partnern müssten nun der Fahrplan und die Modalitäten der Gespräche über einen neuen Kredit für Griechenland geklärt werden - dieser soll diesmal vor allem aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM kommen. Die Verhandlungen darüber verzögern sich aber offenbar.

Das griechische Finanzministerium hatte für Freitag erste Verhandlungen mit Experten der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB), des Euro-Stabilisierungsfonds ESM und des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Athen in Aussicht gestellt. In Brüssel und Washington wurde der Termin aber nicht bestätigt. Am Freitag hieß es aus Verhandlungskreisen, dass die »Mission« noch in Vorbereitung sei. Nach Angaben der EU-Kommission sollen die Beratungen »in den kommenden Tagen« beginnen.

Laut einem Bericht des »Handelsblatts« gab es Differenzen zwischen den Gläubigern und der griechischen Seite über den Ort der Unterbringung der Experten. Statt wie von Premier Tsipras zugesagt in der Hauptstadt sollten sie demnach 20 Kilometer außerhalb untergebracht werden. »Das verstoße ebenfalls gegen die Vereinbarung des Euro-Gipfels. Dort hatte Tsipras den Institutionen eine Normalisierung der Zusammenarbeit zugesagt, inklusive Arbeitsmöglichkeiten in Athen«, schreibt die Zeitung.

Warum dies ein Hinderungsgrund für die Vertreter der Gläubiger sein soll, wurde nicht bekannt. Es gibt wohl auch noch einen anderen Grund. Die EU-Kommission spricht von logistischen Herausforderungen – so müssten etwa die Sicherheitsvorkehrungen für die Verhandlungsgruppe verbessert werden: »Sie sind vor Ort ja nicht bei allen Menschen beliebt«, zitiert das »Handelsblatt« einen ungenannten Vertreter aus Kreisen der EU.

Die Vizevorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, kritisierte die Gespräche als »Farce«. Die Regierung in Athen habe »mit dem Messer an der Kehle die diktierten Maßnahmen der Bundeskanzlerin und ihres Finanzministers akzeptiert. Es ist eine Farce, die Ausformulierung der Details auf technischer Ebene jetzt als Verhandlungen zu bezeichnen«, so die Linkenpolitikerin. »Angela Merkel und Wolfgang Schäuble haben durch die erpressten Gipfel-Vereinbarungen die Demokratie in Griechenland abgeschafft. Das griechische Parlament wurde zur Vollstreckungsbehörde für eine ökonomisch und sozial gescheiterte Kürzungspolitik degradiert«, so Wagenknecht weiter.

* Aus: neues deutschland (online), Samstag, 25. Juli 2015


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