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Die Burg bröckelt

"Grexit" oder nicht? Die Bundesregierung konnte im Umgang mit Athen lange Einigkeit simulieren. Doch nun brechen Widersprüche auf

Von Sebastian Carlens *

Hellas gegen alle: So ließe sich der Konflikt um Griechenland aus Sicht der deutschen Regierung zusammenfassen. Im Gegensatz zu anderen krisengeschüttelten Staaten sei es die »linksradikale« Regierung unter Alexis Tsipras, die keine Reformen anstrebe, sondern einen Konfrontationskurs fahre – und so die Gemeinschaftswährung, gar die europäische Einigung aufs Spiel setze.

Dass es so einfach nicht sein kann, zeigte bereits die große Mehrheit beim griechischen Referendum gegen die mörderischen Sparauflagen der Troika. Der französische Präsident François Hollande plädiert für eine Wirtschaftsunion und den Verbleib des Landes im Euro. Auch aus den USA wird Druck auf die BRD ausgeübt, Griechenland entgegenzukommen.

Mittlerweile ist die Auseinandersetzung in der Bundesregierung angekommen: Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) »haben sich über die Frage eines griechischen Ausscheidens aus der Euro-Zone, des Grexit, heillos zerstritten«, berichtete dpa am Donnerstag. Schäuble halte daran trotz Einigung mit Athen immer noch fest, so der Vorwurf des Vizekanzlers. Schäuble hatte diesen Vorschlag einer zeitweisen Rückkehr zur Drachme am vergangenen Samstag in der Euro-Gruppe unterbreitet, und schon dies sei aus Sicht der SPD ein falsches Spiel gewesen, so dpa. Nur, um eine Demontage des Finanzministers zu verhindern, habe der Vizekanzler mitgeteilt, dass ihm die Idee »natürlich bekannt« gewesen sei.

Schäuble legte am Donnerstag im Interview mit dem Deutschlandfunk nach und bekräftigte seine Idee des »Grexit auf Zeit«: »Es wäre vielleicht für Griechenland der bessere Weg.« Gleichzeitig plädiert er für die Aufgabe staatlicher Souveränität: »Natürlich muss man auch Teile von Zuständigkeit, die bisher die Nationalstaaten haben, auf Europa übertragen.« Gabriels Parteifreund Johannes Kahrs griff den Finanzminister am Donnerstag öffentlich an: »Das ist langsam ein sehr unanständiges Spiel, das er da treibt«, so der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag.

Der ehemalige Finanzminister der Syriza-Regierung, Gianis Varoufakis, sieht Schäuble als Mastermind der deutschen Strategie. Fünf Monate Verhandlungen um ein Reformpaket hätten in die Sackgasse geführt, »weil Dr. Schäuble es so wollte«, schrieb Varoufakis am Donnerstag in der Zeit. Der deutsche Kassenwart habe ihm selbst mitgeteilt, dass der Rausschmiss Griechenlands ein »wichtiger Bestandteil« seines Planes sei. Varoufakis zitiert ein Papier, das Schäuble gemeinsam mit dem früheren außenpolitischen Sprecher der CDU, Karl Lamers, im Jahr 2014 verfasst hat: »Idealerweise wäre Europa eine politische Union«, die über die nationalen Haushalte bestimmen könne, heißt es dort.

Schäuble und Lamers hatten bereits 20 Jahre früher die politische Verschmelzung der »Kernstaaten« der EU als einzige Alternative zu einem aggressiven deutschen Alleingang dargestellt: »Ohne eine solche Weiterentwicklung der (west-)europäischen Integration könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen«, drohten die beiden CDU-Politiker im Jahr 1994 unverhohlen.

Auf den Süden der Europäischen Union bezogen, scheint das deutsche Kapital bereit zu sein, es darauf ankommen zu lassen. In der Regierungsburg zeigen sich allerdings die ersten Risse.

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. Juli 2015


Ein irrer Film

Nobelpreisträger Stiglitz verurteilt Griechenland-Politik: »Finanzsystem muss ersetzt werden«

Von Hansgeorg Hermann **


Mit den Worten »lasst uns die Meinungsverschiedenheiten und das Eigeninteresse zurückstellen, um uns für das Wohlergehen der Menschheit einzusetzen«, hatte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon vor drei Tagen in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba die dritte UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung eröffnet. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz, eingeladener Experte der gestern abgeschlossenen internationalen Tagung, nahm Bans frommen Wunsch zum Anlass für eine vernichtende Kritik an der europäischen Finanzpolitik und den Umgang der sogenannten Eurogruppe mit dem Partner Griechenland. In einem am Donnerstag in der französischen Tageszeitung Libération veröffentlichten Interview verlangte der Nobelpreisträger von 2001 die völlige Neuordnung des internationalen Finanzsystems.

Der Chefökonom des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton sieht in der deutschen Regierung den Hauptverantwortlichen für eine seiner Meinung nach »kontraproduktive und geschichtslose« Austeritätspolitik, die in Griechenland zum wirtschaftlichen und sozialen Niedergang geführt habe und auch andere europäische Partner wie Frankreich oder Italien nicht verschonen werde. »Das, was Deutschland an Stockschlägen austeilt, ist einfach unfassbar.« Stiglitz sagte voraus, dass die von den Deutschen und ihrer Kanzlerin Angela Merkel angeführte Eurogruppe Griechenland und den anderen finanzschwachen europäischen Partnern auch in den kommenden Monaten »Finanzmodelle aufzwingen wird, die wirkungslos sind und die die Ungleichheit und Ungerechtigkeit verschärfen werden«. Er kenne »kein anderes Beispiel einer Depression, die derart mutwillig verursacht wurde und deren humanitäre Konsequenzen so katastrophal waren«. Mit dem sogenannten dritten Hilfspaket hätten Merkel und ihre Kollegen dem griechischen Volk eine neue Stufe der »Erniedrigung« zugemutet.

Der Umgang mit den Vertretern der griechischen Linksregierung unter Alexis Tsipras nannte Stiglitz einen »irren Film«. Neben der »allgemeinen Heuchelei« und jeglichem »Mangel an Mitgefühl« verurteilte der Wirtschafts- und Finanzexperte, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte »offenbar nicht gelernt haben«. Deutschland verdanke seine wirtschaftliche Genesung nach dem Krieg »der größten jemals beobachteten Annullierung von Staatsschulden im Jahr 1953, es müsste seit dem Vertrag von Versailles eigentlich verstanden haben, welche Konsequezen eine unüberwindliche Schuldenlast nach sich ziehen kann«.

Zu der politischen Situation in Griechenland sagte Stiglitz: »Die Bürger haben dort eine Regierung gewählt, die sich gegen die Austeritätspolitik engagiert hatte. Sie haben sich per Volksabstimmung gegen einen sogenannten ›Hilfsplan‹ entschieden, der zu noch mehr Austerität führt. Und nun, mit Blindheit geschlagen, dreht man dieser Regierung den Arm auf den Rücken und zwingt ihr trotz alledem eine neue Rosskur auf. Aber das, was in der Vergangenheit vielleicht noch dort funktionierte, wo solch eine selbstmörderische Politik erzwungen und exekutiert wurde, wird in Griechenland nicht mehr funktionieren…. Falls Deutschland es schaffen sollte, Griechenland aus der Eurozone zu vertreiben, werden die Schäden (für Europa, jW) so tief greifen, dass sie nicht mehr zu reparieren sein werden.«

Stiglitz erinnerte daran, dass von den »kolossalen Summen«, die an Griechenland ausgezahlt worden seien, »nur ein winziger Teil« das Land selbst erreicht habe. »Vor allem und mit absoluter Priorität« seien die Gläubiger bezahlt worden, »allen voran die Banken in Deutschland und Frankreich«. Tatsache sei, »dass mindestens 90 Prozent der Kredite dazu bestimmt waren, in die Finanzetablissements der Geldgeberländer zurückzufließen. Man hat nicht Griechenland gerettet, sondern die Banken.« Die reichen Länder und »ihre Institution, die OECD«, glaubten, sie könnten das aktuelle Finanzsystem »reformieren«. Es sei aber so, dass »ein unveränderbares System nicht reformiert werden kann«. Stiglitz’ Folgerung: »Man muss es ersetzen. Und indem man es ersetzt, muss all das, wovon die reichen Ländern heute profitieren, in Frage gestellt werden.«

** Aus: junge Welt, Freitag, 17. Juli 2015


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