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Politik des Elends

Das Elend der Politik: 100 Tage nach dem Wahlsieg von Syriza in Griechenland hält die "Troika" aus IWF, EZB und EU-Kommission an ihrer erpresserischen Verarmungsstrategie für das Balkanland unbeirrt fest

Von Andreas Wehr *

Der Sieg war erwartet worden, und er fiel eindeutig aus. Die linkssozialistische Partei Syriza erreichte bei den Wahlen zum griechischen Parlament am 25. Januar 2015 36,34 Prozent der abgegebenen Stimmen. Da sie als stärkste Partei 50 zusätzliche Sitze erhielt, verfügt sie mit 149 Mandaten fast über die absolute Mehrheit. Das, was ihr noch fehlte, sicherte sie sich durch eine Koalition mit der rechtskonservativen »Partei der Unabhängigen Griechen – ANEL«. Die ungewöhnliche Zusammenarbeit von links und rechts funktioniert unspektakulär, denn Syriza ist in der Koalition der eindeutig dominierende Teil. Die parlamentarischen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Ziele der Partei sind damit günstig.

Ministerpräsident Alexis Tsipras ist nicht nur in seinem Land der Hoffnungsträger der Linken, sondern in ganz Europa. Er war der Spitzenkandidat der Europäischen Linkspartei bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014. Den Erfolg seiner Partei vom Januar dieses Jahres sieht er selbst als Auftakt zu einer europäischen Linksverschiebung: »Die notwendige Wende in Europa findet hier in Griechenland ihren Anfang. Und unser Wahlsieg wird Ende des Jahres auch zum Sieg des spanischen Volkes. Mit Podemos und Izquierda Unida an der Regierung. Und ein Jahr später zu einem Sieg des irischen Volkes. Mit der Sinn Fein von Gerry Adams.«[1]

Voraussetzung einer solchen »Wende in Europa« ist aber eine erfolgreiche griechische Linksregierung. Ihr muss es gelingen, das zu realisieren, was sie im Wahlkampf versprochen hat. Und das ist viel. Zu dessen Beginn hatte Tsipras verkündet: »Wir werden dem wirtschaftlichen und sozialen Irrsinn der Memoranden und der Austerität ein Ende bereiten. (…) Wir werden den Kampf für die Befreiung Griechenlands von der Zwangsjacke der Schuldenlast führen. Indem wir in ehrlichen, aber entschlossenen Verhandlungen mit den Interessen des Volkes als unübersehbarer roter Linie den Erlass des größten Teils der Schulden fordern. (…) Und eine Verhandlung wird stattfinden! Und dabei wird ein Übereinkommen erreicht werden! Und das Memorandum samt Troika wird der Vergangenheit angehören.«

Seit der Regierungsbildung Ende Januar sind drei Monate vergangen. Tsipras ist seit fast 100 Tagen Ministerpräsident, dies ist jene Zeitspanne, nach der die parlamentarische Schonzeit einer Regierung abläuft. Es soll daher hier versucht werden, eine Bilanz zu ziehen. Sie kann nur vorläufig sein, denn für ein tragfähiges Urteil ist es noch zu früh, zumal in der Krise um Griechenland jähe Wendungen jederzeit möglich sind.

Die neue Regierung kann durchaus auf Erfolge verweisen. Ein Hilfspaket von 200 Millionen Euro versorgt künftig bedürftige Familien mit Essensmarken, kostenlosem Strom und Mietzuschüssen. Säumige Steuerzahler können ihre Schulden in bis zu 100 Raten begleichen und werden dadurch entlastet. Gegenüber den Flüchtlingen zeigt sich die Regierung großzügig, einige der schlimmsten Auffanglager wurden geschlossen. Athen ist es gelungen, die ungelösten Fragen der Reparationen und des während der deutschen Okkupation auferlegten Zwangskredits zurück in die öffentliche Debatte zu bringen und damit die Bundesregierung moralisch unter Druck zu setzen.

Der neuen Regierung war aber von Beginn an klar, dass sie die versprochene Wende in der Krisenpolitik nur erreichen wird, wenn es ihr gelingt, europaweit einflussreiche Bündnispartner zu gewinnen. Die in der Europäischen Linkspartei zusammengeschlossenen Kräfte reichen dafür nicht aus. Als starke Bündnispartner kamen nur die Sozialdemokraten in Frage. Doch anders als noch im Jahr 2000 sind sozialdemokratische Parteien heute nur in wenigen EU-Ländern an Regierungen beteiligt. Und dort wo sie es sind, haben sie von Beginn an unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie der neuen Athener Regierung nicht entgegenkommen werden. Bereits drei Tage nach den Wahlen konnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreiben: »Die Bundesregierung und die EU-Kommission haben die neue griechische Regierung abermals aufgefordert, sich an die mit den Eurostaaten vereinbarten Verpflichtungen zu halten. Nur dann seien diese auch in der Lage, ›weiterhin Hilfen, die in Aussicht gestellt worden sind, geben zu können‹, sagte Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) am Mittwoch in Berlin. Damit drohte der Bundeswirtschaftsminister indirekt mit einem Entzug weiterer Hilfen für das krisengeschüttelte Land. (…) Deshalb sei die Umsetzung der eingegangenen Abmachungen die Voraussetzung für Hilfen der EU-Staaten oder Gelder der Europäischen Zentralbank. ›Die Spielräume sind sehr, sehr gering‹, sagte Gabriel. Einen Erlass der von Griechenland eingegangenen Verbindlichkeiten schloss er de facto aus: ›Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir über einen Schuldenschnitt reden.‹ (FAZ vom 28.1.15) Damit stand die Position der SPD fest.

Nicht ganz so schroff wie Gabriel, in der Sache aber ebenso eindeutig, äußerten sich der französische Staatspräsident François Hollande, der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi sowie der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann. Ihnen allen machte Tsipras wenige Tage nach dem 25. Januar seine Aufwartung, um anschließend mit leeren Händen nach Athen zurückzukehren.

Isoliert in der Euro-Gruppe

Allein war die griechische Regierung von Beginn an auch in der Euro-Gruppe, dem Zusammenschluss der 19 Euro-Länder. Der Bundesregierung gelang es mühelos, die übrigen Länder gegen Griechenland in Stellung zu bringen und dabei zugleich den Eindruck zu vermitteln, Berlin sei gar nicht der schärfste Kritiker Athens. Gern wurden dafür Stimmen aus Osteuropa zitiert, nach denen man dort nicht länger bereit sei, einen griechischen Mindestlohn zu dulden, der weit über dem des eigenen Landes liege: »Arme EU-Mitglieder wie die Slowakei, Slowenien und Tschechien wollen nicht mehr für Athen geradestehen. Denn sie selbst haben weniger Geld.« (FAZ vom 28.2.15). Auch Spanien und Portugal wurden mit ins Boot geholt. Da die konservativen Regierungen in Madrid und Lissabon von links her bedrängt werden, sind sie an einem Erfolg der Athener Regierung nicht interessiert. Italien schlug sich gleichfalls auf die Seite Deutschlands. Zitiert wurde der Chefökonom der italienischen Bankengruppe Unicredit, Erik Nielsen: »Die Strategie der griechischen Regierung, Deutschland zu isolieren und eine Mehrheit anderer Länder dazu zu bringen, eine neue Kredittranche gegen vage Versprechen und ohne schlüssigen Plan auszahlen zu lassen, ist spektakulär gescheitert.« (FAZ vom 31.3.15)

Die vollständige Isolierung innerhalb der Euro-Gruppe ließ der griechischen Regierung keinen Handlungsspielraum. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis sie auf die dort diktierten Forderungen eingehen musste. Am 20. Februar war es soweit. Unterschrieben wurde eine Vereinbarung, nach der Athen zwar den ausstehenden Betrag aus dem laufenden Hilfsprogramm in Höhe von 7,2 Milliarden Euro bis Ende April erhält, aber nur unter der Voraussetzung, dass es weitere Reformen zum Abbau sozialer Leistungen einleitet. Athen hatte zu akzeptieren, dass die »Troika«, bestehend aus der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), unter dem neuen Namen »Die Institutionen« nach Griechenland zurückkehrt und auch das Memorandum – nun »Vereinbarung« genannt – Grundlage des Hilfsprogramms bleibt. Griechenland akzeptierte zudem, dass keine der in den vergangenen Jahren eingeleiteten Sparmaßnahmen ohne Genehmigung der Geldgeber rückgängig gemacht werden darf.

Gegenüber den Bundestagsabgeordneten der Linkspartei bewerteten die Mitglieder des Zentralkomitees von Syriza, Dimitris Belantis und Stathis Kouvelakis, die Vereinbarung wie folgt: »Der Anstieg des Mindestlohnes auf 750 Euro wird nicht kurzfristig von unserem Parlament ›einseitig‹ durchgesetzt werden können. Er kann höchstens eine langfristige Perspektive werden, die unter dem Vorbehalt steht, dass er die Wettbewerbsfähigkeit des Landes in der internationalen Konkurrenz nicht schwächt. Die schon vollendeten Privatisierungen bleiben in Kraft. (…) Die wesentliche Kernforderung des Wahlprogramms von Syriza – nämlich Steuererleichterungen für Lohnabhängige und keine Steuer auf Einkommen unter 12.000 Euro wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Fast kein Gesetzesentwurf kann ohne Einverständnis der Troika (…) und ohne finanzielle Ausgleichsmaßnahmen eingebracht werden. (…) Für uns steht fest, dass die Ratifizierung dieses Vertrages durch europäische Parlamente unter Zustimmung der Parteien der Linken den griechischen Lohnabhängigen und dem griechischem Volk nicht nützlich sein kann. (…) Unserer Meinung nach ermöglicht man der griechischen Linken und im besonderen Syriza die Chance, sein Programm zu verwirklichen, wenn man gegen diesen Vertrag stimmt. Ein ›Ja‹ hingegen öffnet den Weg in eine Welt der falschen Illusionen.« (junge Welt vom 28.2.15) Auch Manolis Glezos, Europaabgeordneter von Syriza und Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzer, erklärte seine Ablehnung der Vereinbarung. Jannis Milios, seit 2010 wichtiger Wirtschaftsexperte von Syriza und Berater von Alexis Tsipras, gab wegen der Zustimmung seiner Partei sein Amt auf. Die Bundestagsfraktion der Linkspartei stimmte dennoch mit großer Mehrheit dem von der Bundesregierung eingebrachten Antrag auf »Finanzhilfen für Griechenland« zu.

Jetzt ist es bereits Ende April, und noch immer ist kein weiteres Geld nach Athen geflossen. Die ausstehenden 7,2 Milliarden Euro sind weiter blockiert. In den vergangenen Wochen sind immer neue Listen mit zugesagten Reformmaßnahmen von der griechischen Regierung erstellt worden. Doch jedes Mal lautete die Antwort: Es reicht noch nicht! Darauf, was den Gläubigern in den Listen vor allem fehlt, hat Heiner Flassbeck hingewiesen: »Die Financial Times schrieb zu einer der vielen Listen in den letzten Tagen: ›Mit der Liste versucht Athen, den Bedenken der Euro-Zone entgegenzukommen, (…) verfehlte aber einige Punkte, die von den Institutionen gefordert worden waren, einschließlich einer Überholung des griechischen Rentensystems und einer größeren Arbeitsmarktflexibilisierung.‹« Dazu Flassbeck: »Diese Chuzpe muss man sich mal vorstellen: Das Land, das seit 2010 mehr Lohnflexibilität als irgendein anderes gezeigt hat, wird gemahnt, seinen Arbeitsmarkt zu liberalisieren! Absurder geht es nicht mehr.«[2]

In der Mangel von IWF und EZB

Mit anfangs mehr Hoffnung blickte Athen auf den IWF, hatte der doch 2013 eingestanden, mit seiner Politik gegenüber Griechenland gescheitert zu sein.[3] Doch von dieser Selbstkritik ist unter seiner neuen Chefin Christine Lagarde nichts mehr übrig. Einen Zahlungsaufschub für das von der Pleite bedrohte Griechenland lehnte sie ab: »Eine Fristverlängerung für die Rückzahlung der nächsten Kreditrate an den IWF sei ein ›unpassender‹ Weg (…) Seit 30 Jahren habe der Währungsfonds keinem Land einen Zahlungsaufschub gewährt. Bei derartigen Fällen in der Zeit davor sei das Ergebnis ›nicht sehr produktiv‹ gewesen.« (FAZ vom 17.4.15) Athen hatte keine Wahl und überwies dem IWF am 9. April fristgerecht eine Kreditrate von 459 Millionen Euro. Weitere Zahlungen in Höhe von nicht weniger als 8,2 Milliarden Euro sind bis Ende des Jahres fällig. Doch damit nicht genug: Der Fonds verlangt von Athen Rentenkürzungen und die Erhöhung der Mehrwertsteuer, bevor er seine Zustimmung zur Auszahlung der letzten Tranche des laufenden Hilfspakets gibt: »Nach einem Besuch von Finanzminister Gianis Varoufakis bei IWF-Chefin Christine Lagarde in Washington berichten griechische Medien übereinstimmend, die anderen Geldgeber in Europa seien ›flexibler‹.« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6.4.15)

Doch auch die EZB zeigt kein Entgegenkommen. Seit dem 11. Februar 2015 können sich griechische Banken kein frisches Geld mehr bei ihr besorgen, weil die EZB griechische Staatsanleihen sowie staatlich garantierte Bankanleihen nicht mehr als Sicherheiten akzeptiert. Diese Entscheidung traf die Zentralbank, da sie Zweifel daran hatte, dass die neue griechische Regierung sich an die Auflagen der »Troika« halten werde. Inzwischen hat die EZB griechischen Banken sogar verboten, weitere griechische Staatspapiere zu kaufen. Damit versperrte sie der Regierung einen wichtigen Zugang zu den dringend benötigten Finanzen.

Liquide ist Athen heute nur noch dank Notfallkrediten (Emergency Liquidity Assistance, ELA). Der dafür zur Verfügung stehende Rahmen beträgt gegenwärtig knapp über 74 Milliarden Euro. Über eine Aufstockung muss jedesmal die EZB entscheiden, die zudem seit Mitte März ein immer engmaschigeres Netz der Kontrollen gegenüber Griechenland ausgebreitet hat. Die Kredite müssen nun wöchentlich und nicht mehr wie bisher alle zwei Wochen bestätigt werden. Zu Recht hat Tsipras davon gesprochen, dass die EZB Griechenland »die Schlinge um den Hals« gelegt hat.

Eine weitere Niederlage erlitt die griechische Regierung durch die Weigerung der Gläubiger, über einen Schuldenschnitt überhaupt zu verhandeln. Eine Schuldenreduzierung war im Wahlkampf von Syriza als eines ihrer wichtigsten Ziele genannt worden. Inzwischen redet niemand mehr darüber.

Jannis Milios hat die Bedeutung der Lösung des Schuldenproblems herausgestellt: »Je mehr die Kosten des Schuldendienstes die Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt abwürgen und das Land in die Deflation taucht, desto mehr erhöht sich das Verhältnis Schulden zu BSP (Bruttosozialprodukt, A.W.), und die Staatsschuld bleibt untragbar.«[4] Selbst von einem konservativen Ökonomen wie Hans-Werner Sinn wird das Schuldenproblem als zentral angesehen: »Als allererstes brauchen wir eine große Schuldenkonferenz, bei der alle Schulden der Krisenländer auf den Tisch gelegt werden und bei der die Gläubiger und Schuldner anschließend über einen Schuldenerlass bzw. einen Schuldenschnitt verhandeln. Denn es macht keinen Sinn mehr, sich noch länger vorzumachen, dass die Schulden zurückgezahlt werden.«[5] Doch darauf lassen sich Griechenlands Gläubiger nicht ein. Warum das so ist, kann man einem Bericht des IWF entnehmen, aus dem Jannis Milios zitiert: »Eine Schuldenverringerung für Griechenland würde eine Lockerung der Reformen verursachen. Die große Schuld ist als Druckmittel gegen die Regierung anzusehen, das sie zum Handeln zwingt.«[6]

Osteuropa als Vorbild

Angesichts von anhaltender Kapitalflucht – es wird geschätzt, dass seit November 2014 mehr als 30 Milliarden Euro außer Landes gebracht wurden – und einer Wirtschaft, die im Winterhalbjahr erneut in die Rezession gesunken ist (im ersten Quartal 2015 ist die Wirtschaftsleistung um 0,4 bis 0,6 Prozent geschrumpft), fehlt es Athen an Steuereinnahmen. Im Dezember und im Januar 2015 wurden rund 2,2 Milliarden Euro weniger eingenommen als geplant. Inzwischen wird über die Einführung von Steuern auf den Konsum von Alkohol und sogar auf Lebensmittel mit viel Fett, Salz oder Zucker nachgedacht. Dies zeigt, wie groß die Finanznot ist.

Und die Schlinge wird immer enger gezogen: Im Mai und Juni dieses Jahres muss Griechenland dem IWF insgesamt 2,5 Milliarden Euro zurückzahlen. Gegenwärtig behilft sich die Regierung damit, Geld aus staatlichen Unternehmen und Kommunen abzuziehen. Nur so gelingt es ihr, sich über Wasser zu halten. Doch spätestens in diesem Sommer, wenn die Rückzahlung auslaufender Anleihen im Besitz der EZB über jeweils mehr als vier Milliarden Euro ansteht, ist die Regierung zahlungsunfähig. Der Staatsbankrott kann dann nur noch mit einem neuen Hilfsprogramm des Euro-Rettungsschirms im Volumen von 20 bis 25 Milliarden Euro abgewendet werden.

Spätestens bis dahin wird die Athener Regierung die seit Wochen auf dem Tisch liegenden Forderungen der Gläubiger erfüllt haben müssen. Sie lauten: Aufhebung von weiteren Schutzvorschriften im Arbeitsrecht, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Absenkung des Rentenniveaus, und Festlegung eines jährlichen Haushaltsüberschusses zur Tilgung der Schulden. Die Rolle der Syriza-Regierung wird sich darauf beschränken müssen, in der einen oder anderen Frage Kompromisse aushandeln zu können.

Das Ziel der Gläubiger steht fest: Griechenland soll auf den Stand Osteuropas heruntergebracht werden. Diese Absicht verheimlicht man auch gar nicht: »Und es wird weiter Geld nach Athen fließen müssen, solange die Löhne und Renten in Griechenland nicht der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der griechischen Wirtschaft entsprechen. Dazu müsste sich der Durchschnittsverdienst in Griechenland irgendwo zwischen dem Niveau Estlands und Sloweniens einpendeln. Das ist nur über eine fortgesetzte interne Abwertung erreichbar, also über weitere Kürzungen.« (FAZ vom 27.2.15) Für Griechenland heißt das: Wachsende Armut, weitere Entrechtung der Lohnabhängigen, steigende Arbeitslosigkeit und mehr Arbeitsemigration. Doch das nimmt man in Berlin, Brüssel und Washington gleichgültig hin, ganz so wie man sich zuvor nicht für das Schicksal der osteuropäischen Staaten interessiert hatte.[7]

Sollte sich Syriza durch die Zustimmung zu dieser Politik gegenüber seinen eigenen Wählern gründlich diskreditieren, so dürfte das von den Gläubigern nicht ungern gesehen werden. Umbesetzungen in der Regierung, die Abspaltung des linken Parteiflügels bzw. die Bildung einer anderen Koalition, etwa unter Beteiligung der sozialliberalen Partei »To Potami – Der Fluss«, könnten ihnen gefallen.

Über einen »Plan B« – eine Strategie für den Ausstieg aus dem Euro-System – verfügt Syriza ganz offensichtlich nicht. Politiker in ihren Reihen, die ihn fordern, wie etwa der Abgeordnete Costas Lapavitsas, befinden sich in der Minderheit. Die hinter Tsipras stehende Mehrheit der Partei hat sich hingegen in ihren proeuropäischen Positionen verfangen und will einen »Grexit« unbedingt vermeiden. So scheinen die Kritiker recht zu behalten, die bereits im Januar prophezeiten, dass die neue Regierung scheitern werde, wenn es ihr nicht gelingt, sich von den Illusionen über die Europäische Union zu lösen und einen von ihr unabhängigen Weg zu gehen.

Anmerkungen
  1. »Es wählt nicht Schäuble, es wählen die Griechen.« Rede von Alexis Tsipras, Vorsitzender von Syriza, zur Eröffnung des Wahlkampfes, 5.1.2015, http://www.die-linke.de/politik/themen/syriza-und-die-wahlen-in-griechen...
  2. Heiner Flassbeck: Der letzte Akt im griechischen Drama beginnt, 7.4.2015 http://www.novo-argumente.com/magazin.php/novo_notizen/artikel/0001843
  3. IMF admits: We failed to realise the damage austerity would do to Greece, The Guardian, 5.6.2013
  4. Jannis Milios, Verhandlungen über die Schuld, in: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft (spw), Heft 206, 1/2015, S. 4
  5. Hans-Werner Sinn: Gefangen im Euro, München 2014, S. 128
  6. Jannis Milios, a. a. O., S. 6
  7. Von der europäischen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, hat etwa Lettland zwischen 2008 und 2011 das Martyrium einer inneren Abwertung durchlitten, vgl. hierzu: Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2011, 2. Auflage, S. 39 ff.

* Aus: junge Welt, Montag, 27. April 2015


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