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Griechenland wird Kolonie

Ministerpräsident Alexis Tsipras beugt sich Diktat der EU: Brutales Kürzungspaket, Hellas unter Zwangsverwaltung der Troika. Proteste in Athen und im Internet: #ThisIsACoup *

Griechenland wird de facto einer Kolonialherrschaft der Troika unterworfen. Nach 17stündigen Verhandlungen einigten sich am Montag morgen die Regierungschefs der 19 Euro-Länder »einstimmig« darauf, Verhandlungen über ein »drittes Hilfspaket« aufzunehmen. Als Voraussetzung dafür musste sich der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras offenbar weitgehend einem Diktat unterwerfen, das die Finanzminister der Eurogruppe am Sonntag vorgelegt hatten. Mit diesem Forderungskatalog hatte die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) angeführte Riege das am Freitag von Athen vorgelegte Kürzungsangebot noch einmal verschärft.

Dem Papier der Finanzminister zufolge musste Ministerpräsident Alexis Tsipras vom griechischen Parlament noch in dieser Woche eine generelle Zustimmung zum kompletten Programm einholen. Bis Mittwoch sollten die Abgeordneten bereits eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, eine Einleitung der Rentenreform, eine Justizreform zur Beschleunigung der Verfahren und damit einer Kostensenkung, die Gewährleistung der Unabhängigkeit des nationalen Statistikamts sowie eine quasi-automatische Ausgabenkürzungen bei einem Reißen der Sparziele beschließen. Bis Ende der Woche wurde zudem die Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung von Banken gefordert, wonach zuerst deren Eigentümer und Gläubiger die Verluste tragen müssen und erst danach ein von der gesamten Bankenindustrie finanzierter Abwicklungsfonds. Diese Vorgaben akzeptierte Tsipras offenbar weitgehend. »Wir haben einen gerechten Kampf geführt«, sagte er am Montag in Brüssel. »Wir stehen jetzt vor schweren Entscheidungen.«

Er habe in den Verhandlungen mit den »Partnern« hart gekämpft, betonte Tsipras. Nun werde er im Inland ebenso hart kämpfen, damit die Gipfelbeschlüsse umgesetzt würden. »Griechenland braucht tiefgreifende Reformen«, betonte er.

Erst nach Erfüllung des Ultimatums soll die Troika von Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU-Kommission beauftragt werden, das Dreijahresprogramm im Einzelnen auszuhandeln. Darin werden weitere Auflagen verlangt. So soll bis Oktober eine Rentenreform zur schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beschlossen werden. Zu den Vorgaben gehören außerdem die Öffnung von Produktmärkten, Handel und geschlossenen Berufsgruppen, darunter das Fährgeschäft, Privatisierungen im Energiesektor, die Fortführung der »Arbeitsmarktreform«, eine Finanzmarktreform, die der Gefahr durch faule Kredite bei den Banken begegnen soll, die Verabschiedung einer Verwaltungsreform unter EU-Aufsicht sowie eine Beschleunigung der Privatisierungen. Auch diesem Diktat scheint sich Tsipras gebeugt zu haben.

Lange strittig war in den nächtlichen Verhandlungen offenbar eine von Schäuble geforderte Überführung von Staatsvermögen in einen Fonds unter Aufsicht der EU, mit dessen Einnahmen Schulden abgebaut werden sollen. Nun soll dieser Fonds offenbar in Athen und nicht in Luxemburg angesiedelt werden. Die Einnahmen aus dem Verkauf von staatseigenen Betrieben und Vermögen soll zur Hälfte in die Rückzahlung der Schulden fließen, zu einem anderen Teil in die Rekapitalisierung der Banken – die nach Angaben von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anschließend privatisiert werden sollen – und in Investitionen in Griechenland. Zugleich wird die Kontrolle durch die Troika ausgeweitet: Athen muss sicherstellen, dass deren Vertreter Zugang zu den Ministerien erhalten. Ob die Forderung der Finanzminister akzeptiert wurde, dass die Troika relevante Gesetzentwürfe absegnen müsse, bevor diese im Parlament verhandelt werden, wurde zunächst nicht bekannt.

Verpflichtet wurde Athen zudem darauf, die im Februar beschlossenen Gesetze über eine Wiedereinstellung entlassener Staatsdiener zurückzunehmen. So sollen nach Informationen des kommunistischen Nachrichtenportals 902.gr offenbar Reinigungskräfte, die nach monatelangen Protesten weiterbeschäftigt wurden, nun doch wieder auf die Straße geworfen werden. Auch der wieder in Betrieb genommene öffentlich-rechtliche Rundfunk ERT steht demnach erneut zur Disposition.

Die von Athen im Gegenzug erhofften Schuldenerleichterungen gibt es dagegen nicht. Eine »Umstrukturierung« der Verbindlichkeiten wurde lediglich vage in Aussicht gestellt, wenn das dritte »Hilfsprogramm« erfolgreich laufe, wie Merkel bei einer Pressekonferenz am Montag morgen in Brüssel erklärte. Noch einmal betonte sie dort, dass Berlin einen Schuldenschnitt nicht akzeptiere.

Der frühere griechische Finanzminister Gianis Varoufakis hatte am Freitag über den Internetdienst Twitter gefordert, dass es ohne Zugeständnisse an Athen in der Schuldenfrage in Brüssel keine Einigung gegen dürfe: »Umstrukturierung der Schulden oder kein Abkommen! Das sage ich zumindest.« Am selben Tag hatte er im britischen Guardian einen Artikel veröffentlicht, in dem er Bundesfinanzminister Schäuble vorwarf, Griechenland gezielt aus dem Euro werfen zu wollen: »Auf der Grundlage monatelanger Verhandlungen bin ich davon überzeugt, dass der deutsche Finanzminister will, dass Griechenland aus der Währungsunion herausgedrängt wird, um den Franzosen das Fürchten zu lehren und sie zu zwingen, sich seinem Modell einer Eurozone zu unterwerfen, in der strenge Disziplin herrscht.«

Unterdessen kündigte Moskau Unterstützung für Griechenland an. Man werde den Wiederaufbau der Wirtschaft durch eine Kooperation im Energiesektor unterstützen, sagte Energieminister Alexander Nowak am Sonntag. Dazu würden direkte Energielieferungen für Athen gehören, die in Kürze beginnen könnten, hieß es.

Vor dem Parlament in Athen demonstrierten am Sonntag abend erneut Hunderte Menschen gegen weitere Kürzungen. Auch im Internet machte sich bereits Unmut bleibt. Tausende Nutzer des Internetdienstes Twitter verbreiteten den Hashtag (Schlagwort) #ThisIsACoup (Das ist ein Putsch) als Kommentar zu den Forderungen der EU an Athen. Eine ebenfalls auf diesem Weg massenhaft verbreitete Aufforderung an Tsipras, das Gipfeltreffen abzubrechen (#TsiprasLeaveEUSummit), blieb erfolglos.

* Aus: junge Welt, Montag, 13. Juli 2015


S T I M M E N

Der linke Flügel der griechischen Regierungspartei Syriza schreibt auf seiner Homepage:
»Nach 17stündigen Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone eine Vereinbarung geschlossen, die Griechenland und die Griechen demütigt. Das griechische Volk darf sich dadurch nicht entmutigen lassen, im Gegenteil: Es muss hartnäckig bleiben, wie es das im Referendum und den landesweiten Protesten für ein ›Nein‹ bis ganz zum Ende war.«

Der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schreibt in einem Kommentar für die New York Times:
»Das europäische Projekt - ein Projekt, das ich immer gelobt und unterstützt habe - hat gerade einen furchtbaren, vielleicht sogar tödlichen Schlag erlitten. Und was immer man von Syriza oder Griechenland hält - die Griechen haben es nicht verbockt.« Der Hashtag »#thisisacoup«, der hunderttausendfach im Internetkurznachrichtendienst Twitter verbreitet wurde, liege genau richtig: Das Vorgehen der Eurogruppe gehe über Strenge hinaus »in schiere Rachsucht, in kompletter Zerstörung nationaler Souveränität, ohne Hoffnung auf Abhilfe«. Weiter schreibt Krugman: »Es ist vermutlich als Angebot gedacht, das Griechenland nicht annehmen kann - nichtsdestotrotz ist es ein grotesker Verrat an allem, wofür das europäische Projekt eigentlich stehen sollte.«

Die griechische Tageszeitung I Efimerida kommentiert:
»Auf dem Treffen dominierte Schäubles rachsüchtige Politik gegenüber der griechischen Regierung. Der Euro-Gipfel bedeutet ein schwarzes Kapitel in der europäischen Geschichte.«

Die linke Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel schreibt auf Facebook:
»Die Bundesregierung, allen voran Schäuble, und die EURO-Gruppe wollen die linke Regierung in Griechenland stürzen. Nichts anderes haben diese ›Verhandlungen‹ zum Ziel. Früher wurden Militärputsche unterstützt, so einfach geht das nicht mehr, zumindest nicht in Griechenland. Heute spricht man von ›Vertrauen zurückgewinnen‹, aber das Ziel bleibt das gleiche: eine demokratisch gewählte Regierung zu Fall zu bringen mit perfiden Methoden des Aushungerns. Hier zeigt der Kapitalismus sein wahres Gesicht: allen, die sich diesem System widersetzen, wird das gleiche widerfahren, ist die eigentliche Botschaft ! Unsere Botschaft muss heissen: Weg mit dieser kapitalistischen EU, ihr Weg ist mit Leichen gepflastert, im Mittelmeer, in Griechenland, in.…«

Der linke Europaabgeordnete Fabio de Masi kommentiert ebenfalls auf Facebook:
»Heute Nacht ist Europa (ein weiteres Mal) gestorben. Auf dem Weg nach Brüssel, wo Griechenland zerstört wird mit Krediten und ökonomischem Waterboarding. ‪#‎ThisisACoup‬«

Pablo Iglesias, Chef der spanischen Partei Podemos, schreibt:
»All unsere Unterstützung für das griechische Volk und seine Regierung gegen die Mafiosi. #ThisIsACoup«

Vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone erklärten am Sonntag die stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion Die Linke, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch:

Das griechische Trauerspiel wird jetzt seit fünf Jahren in immer neuen Folgen aufgeführt. Griechenland wird eine Kürzungspolitik diktiert, die es immer ärmer macht und seine Schulden weiter erhöht. Und jedesmal, wenn sich herausstellt, dass die Medizin wieder nicht gewirkt hat und der Patient noch kränker geworden ist, fordern Merkel, Schäuble und Co. eine Erhöhung der Dosis. Zahlen für diesen Wahnsinn dürfen die europäischen Steuerzahler, die dank Merkel heute für den übergroßen Teil der griechischen Schulden haften, leiden müssen die Griechinnen und Griechen, deren Lebensverhältnisse sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert haben. Inzwischen scheinen Schäuble und Gabriel selbst den Glauben an ihre Medizin verloren zu haben und fordern den (zumindest vorübergehenden) Rauswurf des verarmten Landes aus der Euro-Zone. Es ist offenkundig: Hier geht es längst nicht mehr um die Details irgendwelcher »Reformlisten«. Hier geht es darum, ein Exempel zu statuieren: Wer immer in Europa es wagt, gegen deutsche Vorgaben und neoliberale Politik aufzumucken, der hat keine Chance.

Schäuble und Gabriel wollen ein deutsches Europa und kein europäisches Deutschland. Das Erbe Helmut Kohls wird leichtfertig verspielt und das Verhältnis zu Frankreich und Italien verschlechtert. Dass ein SPD-Vorsitzender inzwischen als Hardliner beim Vorantreiben von Rentenkürzungen, Mehrwertsteuererhöhungen und Privatisierungen vorprescht und Merkel beim Schüren nationalistischer Ressentiments regelmäßig rechts überholt, ist eine Schande. Dass seine Partei das hinnimmt, ist traurig und zeigt, dass mit der SPD wohl auf absehbare Zeit keine sozial verantwortbare Politik zu machen ist. Zudem werden sämtliche Informations- und Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages missachtet. Niemand hat das Recht, ohne Kenntnis des Parlaments so zu agieren.

Die bisherige Politik in Europa ist gescheitert. Es muss dringend eine Lösung für die Staatsschulden nicht nur in Griechenland geben. Überschuldete Länder brauchen nicht weitere Steuermilliarden, sondern einen Schuldenschnitt. Endlich muss europaweit eine Vermögensabgabe eingeführt werden, die die Profiteure der Krise zur Kasse bittet. In Griechenland wie in anderen Ländern müssen Investitionen in Wachstum und Beschäftigung vorgenommen werden. In Investitionsprogrammen, die die reale Wirtschaft ankurbeln, wäre das EZB-Geld europaweit wesentlich besser angelegt als in obskuren Finanzpapieren, die nur die Vermögensblasen weiter aufblähen und die Reichen noch reicher machen.

Dokumentiert nach jW, 13.07.2015




Merkel mauert

Euro-Gruppe und »Grexit«: Kanzlerin will keine Einigung mit Athen um jeden Preis, Schäuble fordert befristeten Ausschluss Griechenlands aus dem Währungsverbund

Von Reinhard Lauterbach **


Die Verhandlungen der Euro-Gruppe über die Zukunft Griechenlands in Brüssel ziehen sich hin. Zwei Treffen der Euro-Finanzminister am Samstag und Sonntag brachten (bis jW-Redaktionsschluss) keine Einigung auf eine gemeinsame Linie. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte einen vergangene Woche eilig anberaumten Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU wieder ab, auf dem es um ein neues Kreditprogramm für Griechenland hätte gehen sollen. Angesichts der unübersehbaren Gegensätze innerhalb der Mitgliedsstaaten der Währungsunion sollte am Sonntag abend nur noch ein Gipfel der Euro-Staaten stattfinden. Vor dessen Beginn erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, es werde keine Einigung um jeden Preis geben. Eine eventuelle Lösung müsse Vorteile für alle bieten: Griechenland, die Euro-Zone und die »Prinzipien unserer Zusammenarbeit«. Der finnische Finanzminister Alexander Stubb forderte, Griechenland müsse über die beim Referendum am 5. Juli abgelehnten Forderungen der »Troika« hinaus zehn bis 15 »Reformschritte« sofort umsetzen. Dazu zählten neben Verschlechterungen bei der Rente Privatisierungen weiterer Teile der öffentlichen Infrastruktur, Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte und neoliberale Dauerbrenner wie eine Ladenöffnung am Sonntag. Wenn es nach den Hardlinern der Euro-Gruppe geht, steht dem griechischen Parlament am heutigen Montag eine Sitzung zum Abnicken sozialer Grausamkeiten bevor.

Am Samstag hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble einen befristeten Ausschluss Griechenlands aus der Währungsunion ins Gespräch gebracht. Der CDU-Politiker sagte, Griechenland solle für fünf Jahre eine eigene Währung einführen, diese abwerten und anschließend einen neuen Mitgliedsantrag für die Gemeinschaftswährung stellen. Die Idee stieß in Brüssel vor allem auf Widerstand aus Frankreich und Italien. Frankreichs Präsident François Hollande erklärte, die EU-Verträge sähen keinen »provisorischen Grexit« vor. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi erklärte, Deutschland solle aufhören, seine Partnerländer unter Druck zu setzen. »Genug ist genug«, so Renzi wörtlich. An Schäubles Seite stellte sich nach deutschen Quellen die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite – was ihr Finanzminister Rimantas Sadzius allerdings am Sonntag dementierte. Die osteuropäischen EU-Staaten geben in der Dramaturgie der Griechenland-Debatte seit längerem die sparwilligen Musterschüler, und mit der Behauptung, ihren Bevölkerungen gehe es noch weit schlechter als den Griechen, lehnen sie jedes Zugeständnis an Athen ab.

In Deutschland stieß Schäubles Forderung auf deutliche Kritik bei der Opposition und auch in der ökonomischen Fachwelt. Die Grünen nannten Schäubles Vorstoß verfassungswidrig, weil er nicht vorab dem Bundestag zugeleitet worden sei. Die Linke warf Schäuble vor, das »Erbe von Helmut Kohl leichtfertig zu verspielen« und das Ansehen der BRD in Europa zu ruinieren. Chefvolkswirte mehrerer Banken erklärten gegenüber der Agentur Reuters, einen Grexit auf Zeit könne es nicht geben. Man könne nur »drin oder draußen« sein. In der Tat sehen die EU-Verträge zwar eine Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten vor, früher oder später den Euro einzuführen; ausgenommen sind nur Großbritannien, Dänemark und Schweden, die dies bei der Einführung des Euro ausdrücklich ausgeschlossen hatten. Ein Austritt aus der als unwiderruflich konzipierten Währungsunion ist dagegen nicht vorgesehen.

** Aus: junge Welt, Montag, 13. Juli 2015


"Kampf der Wölfe"

Eindrücke aus Griechenland nach den Entscheidungen aus Brüssel

Von Anke Stefan ***


Die Griechen hatten sich entschieden und ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Ergebnisse der Verhandlungen am Sonntag blieben allerdings deutlich hinter ihren Erwartungen. Erster Protest organisiert sich.

Athen. »Vor schwierigen Entscheidungen stehend und harten Zwickmühlen ausgesetzt haben wir die Verantwortung übernommen, um die Umsetzung der extremsten Vorstellungen der extremsten konservativen Kreise in der EU zu vereiteln«, erklärte der sichtlich erschöpfte griechische Ministerpräsident am Montagmorgen nach einem 17-stündigen Verhandlungsmarathon der Regierungschefs der Eurozone. Vereinbart wurde ein neues Gläubigermemorandum, das Griechenland neue harte Einschnitte bei Einkommen und Kaufkraft derselben, sowie eine strikte Unterordnung unter die Aufsicht der Gläubiger auferlegt. Die geforderten Maßnahmen seien schwierig umzusetzen und trügen mit Sicherheit zu weiterer Rezession bei, gestand auch Alexis Tsipras ein. Mit dem eigenen »harten Kampf« habe man es aber geschafft, sagte Tsipras, eine Umschuldung zu erreichen. »Und eine mittelfristige Finanzierung zu sichern.« Dies und die ebenfalls zugesagten 35 Milliarden für den wirtschaftlichen Wiederaufbau würden aber bei den Märkten und Investoren »das Gefühl erzeugen, dass ein Grexit nun Vergangenheit ist.« Diese könne eine »Investitionswelle erzeugen, die die Rezessionstendenzen ausgleichen wird.« Gleichzeitig versprach der griechische Ministerpräsident die Lasten des neuen Abkommens gleichmäßiger zu verteilen und auch diejenigen zur Kasse zu bitten, die »es in der Vergangenheit geschafft haben, sich zu entziehen oder denen die Möglichkeit dazu von den vorherigen Regierungen gegeben wurde«.

Allerdings wird sich SYIRZA bei der Umsetzung der neuen Maßnahmen auf die Stimmen genau der Parteien stützen müssen, die diese Regierungen gebildet hatten. Bereits bei der Ausstellung des Verhandlungsmandats am Freitag war Tsipras auf die Stimmen von Nea Dimokratia, PASOK und der erstmalig im Parlament vertretenen Partei To Potami angewiesen gewesen. Denn aus der Regierungskoalition hatten neben den 13 Abgeordneten der ANEL nur 132 der 149 SYRIZA Parlamentarier für Tsipras gestimmt.

Die »Linke Plattform« in SYRIZA bezeichnete Montagmorgen dementsprechend auch die getroffene Vereinbarung als»erniedrigend für Griechenland und das griechische Volk«. Auf ihrem Internetportal Iskra.gr wurde angekündigt, »die Kräfte der radikalen Linken, die Lohnabhängigen, die Jugend, die betroffene gesellschaftliche Mehrheit« würden »den Kampf dafür fortsetzen, dass die neuen rezessiven und volksfeindlichen Maßnahmen nicht durchkommen«. Für die Linke Plattform gehört dabei der Austritt aus der Währungsunion dazu. Denn es habe sich gezeigt, dass es »im Kampf der Wölfe der Eurozone keinen Spielraum für eine unabhängige und eigenständige antirezessive und volksfreundliche Politik« gebe. Da der Linken Plattform mit Panagiotis Lafazanis (Energie, Umwelt und wirtschaftlicher Wiederaufbau) und Dimitris Stratoulis (Sozialversicherungswesen) auch zwei unmittelbar in die Umsetzung der Gläubigerforderungen involvierte Minister angehören, wird mit einer Regierungsumbildung in Griechenland bereits innerhalb der nächsten Tage gerechnet.

Erste Proteste auf der Straße sind in Athen bereits für Montagabend angekündigt. Einem über Facebook verbreiteten Aufruf zu einer Demonstration vor dem Parlament unter dem Motto »Wir verlassen DIESES Europa« haben sich laut Veranstalter weit über 20.000 Menschen angeschlossen.

In der Opposition sicherte man dem griechischen Ministerpräsidenten dagegen bereits Montagmittag Unterstützung zu. »Wir haben den Grexit vermieden, es gibt eine Vereinbarung«, twitterte die erst kürzlich ins Amt gewählte Vorsitzende der PASOK Fofi Gennimata und forderte die Regierung zu schnellem Handeln auf. »Griechenland hat Atem geholt, so dass es mit Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein daran gehen kann, seinen Weg in Europa wieder zu finden«, erklärte auch nach dem Rücktritt von Antonis Samaras geschäftsführende Vorsitzende der Nea Dimokratia, Evangelos Meimarakis gegenüber der Presse. Gleichzeitig beschuldigte er die amtierende Regierung jedoch, das Land in eine Position gebracht zu haben, in der es die Wahl zwischen der Akzeptanz jedweden Memorandums und der vollständigen Katastrophe in Falle eines Grexit gehabt habe. Die Vereinbarung habe lange auf sich warten lassen, erklärte auch der Vorsitzende der Partei To Potami, Stavros Theodorakis. Zwar enthalte sie »schmerzhafte Reformen, die leider neue Opfer verlangen«, setzte der ehemalige Starjournalist hinzu. Diese müssten allerdings »diesmal planvoll, entschlossen und gerecht« angegangen werden.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 13. Juli 2015


Zum Hintergrund (Aus: nd)

Neun von zehn Euro gingen an die Banken

Nur ein Bruchteil der öffentlichen Kredite an Griechenland kam dem Staatshaushalt zu Gute

Von Simon Poelchau ****


Rund 240 Milliarden Euro wurde Griechenland im Rahmen von zwei Kreditprogrammen von den Gläubigern bewilligt. Das weitaus meiste landete schnell bei den Banken.

In Deutschland war der Widerstand gegen ein drittes Kreditprogramm für Griechenland von Anfang an äußerst hart. Im Februar dieses Jahres etwa erregt die »Bild«-Zeitung mit ihrer Nein-Kampagne viel Aufsehen. »Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen!«, tönte Deutschlands größtes Boulveard-Blatt populistisch. Damit wurde mal wieder das Vorurteil vom faulen Griechen bestärkt, der sich auf Kosten der deutschen Steuerzahler in Saus und Braus lebt.

Was jedoch in der aktuellen Debatte um die Schulden Athens kaum mehr eine Rolle spielt: Auch die Staatsschuldenkrise in Griechenland hatte ihre Ursache in der Finanzkrise. Von Ende 2007 bis 2010 schoss die Staatsverschuldung im Vergleich zur Wirtschaftsleistung von 107 auf 148 Prozent in die Höhe. Auch deutsche Banken verliehen da Geld. Ende 2010 beliefen sich ihre Forderungen gegenüber dem Krisenstaat auf rund 30 Milliarden Euro. Im Frühjahr 2015 waren es nur noch rund vier Milliarden Euro. Da liegt der Verdacht nahe, dass die milliardenschweren Kreditpakete gar nicht die griechische Bevölkerung, sondern die heimischen und europäische Finanzinstitute retten sollten.

Eine erste Studie, die dies belegte, erstellten die Globalisierungskritiker von Attac Österreich. Im Juni 2013 berechneten sie, dass 77 Prozent der Athen bis dahin überwiesenen 206,9 Milliarden Euro direkt in den Finanzsektor weiter flossen. So wurden 58,2 Milliarden Euro für die Rekapitalisierung der hellenischen Banken verwendet, 101,3 Milliarden Euro kamen Gläubigern des griechischen Staates zugute und maximal 46,6 Milliarden Euro gingen in den Staatshaushalt.

Der ehemalige Finanzminister Yanis Varoufakis brachte Anfang dieses Jahres noch eine andere Zahl ins Spiel: Über 90 Prozent der 240 Milliarden Euro, die Griechenland aufnahm, seien an internationale Finanzinstitute geflossen. Der linke Politiker und Ökonom wollte damit klar stellen, dass die Kreditprogramme vor allem eine zynische Verschiebung privater Verluste aus den Büchern der Banken auf die Schultern der verwundbarsten Bürger Griechenlands gewesen seien.

Diese 90 Prozent wollte das ifo-Institut München nicht stehen lassen. Sein Chef, der Ökonom Hans-Werner Sinn, gilt hierzulande als größter Scharfmacher in Sachen Griechenland. Schon frühzeitig forderte er ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion und wird seitdem nicht müde, dies immer wieder zu betonen. Ende Mai dieses Jahres brachte sein Institut eine 34 Seiten lange Studie unter dem Titel »Die griechische Tragödie« heraus. Darin wird behauptet, dass ein Drittel der Athen gegebenen Kredite »wohl im Wesentlichen« der Finanzierung des griechischen Lebensstandards dienten.

Dies kann augenscheinlich nicht stimmen, da dafür rund 80 der 240 Milliarden Euro, die Athen als Kredite gewährt wurden, in die Finanzierung des Staatshaushaltes hätten fließen müssen. Und diese Summe müsste sich in dem Staatsdefizit widerspiegeln, das Athen seit Beginn der Kreditprogramme angehäuft hat. Rechnet man jedoch die Zinszahlung heraus, die Athen leisten musste - schließlich wandert dieses Geld zu den Finanzinstituten -, so beträgt das gesamte Defizit von 2010 bis 2014 lediglich knapp 40 Milliarden Euro. Höchst wahrscheinlich dürfte ein noch geringere Summe der Kredite in die Finanzierung des Staatshaushaltes gegangen sein, da das erste Kreditprogramm erst im Mai 2010 startete und Athen seit Juni 2014 wieder begann, sich Geld auf den Kapitalmärkten zu borgen.

Zudem fällt auf, dass das ifo-Institut von einer viel größeren Summe ausgeht, die Griechenland öffentlichen Kreditgebern schuldig sei - nämlich 325 Milliarden Euro. Doch knapp 100 Milliarden Euro davon sind sogenannte Target2-Verbindlichkeiten der griechischen Zentralbank gegenüber dem Eurosystem. Doch sind dies im eigentlichen Sinne keine Kredite, schon gar keine an den griechischen Staat. Die Target2-Salden spiegeln anhand der Zentralbankbilanzen den Geldfluss innerhalb der Eurozone. Sind diese Salden wie im Falle Griechenland negativ, so bedeutet dies lediglich, dass mehr Geld hinaus als hinein geflossen ist.

Insofern lösten sich in dieser Rechnung quasi auch ein Drittel der öffentlichen Kredite in Luft auf, die Athen laut ifo-Institut erhalten haben soll. Dies sind vor allem wohl jene, die angeblich an die Bevölkerung geflossen seien. Übrig bleiben die restlichen zwei Drittel, die auch laut ifo-Institut »offenbar der Finanzierung der Kapitalflucht« dienten, die zum erheblichen Teil durch »ausländische Anleger, vor allem französische, aber auch deutsche Banken«, verursacht wurden.

Übrigens geht neben Yanis Varoufakis auch der linke Europaabgeordnete Fabio De Masi davon aus, dass etwa 90 Prozent der Kredite für Athen an die Banken weitergereicht wurden. Demnach wurden insgesamt 75,1 Milliarden für Tilgungen, 58,2 Milliarden direkt für die Stabilisierung des Bankensektors und 40,1 Milliarden für die Zahlung von Zinsen verwendet. Zudem flossen 34,6 Milliarden Euro zur Versüßung des Schuldenschnitts an private Gläubiger. Die griechische Bevölkerung sah von den Krediten fast gar nichts.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 13. Juli 2015




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