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Die Programme sind weitgehend gleich

Annika Oettler über die Präsidentschaftswahlen und die Lage der Bevölkerung in Guatemala *

Am Sonntag (4. November 2007) wird in den Stichwahlen um die Präsidentschaft in Guatemala ein Nachfolger für Oscar Berger gewählt. Zur Auswahl stehen der Sozialdemokrat Álvaro Colom und der Exmilitär Otto Pérez Molina. Mit der Guatemala-Expertin Anika Oettler, Wissenschaftlerin am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg, unterhielt sich für ND (Neues Deutschland) Tim Fiege.



ND: Zwei Politiker hatten es am 9. September in die Stichwahl geschafft: der Sozialdemokrat Álvaro Colom und der Konservative Otto Pérez Molina. Hatten die Guatemalteken tatsächlich die Wahl zwischen zwei unterschiedlichen politischen Programmen?

Oettler: Es ist grundsätzlich zweifelhaft, ob sich diese beiden Politiker programmatisch so stark voneinander unterscheiden. Colom gilt zwar als Sozialdemokrat, hat aber als Unternehmer einige frühere linke Positionen aufgegeben und gilt eher als wirtschaftsfreundlich. Otto Pérez Molina war als General an vielen Massakern und Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges beteiligt. Er hat im Wahlkampf eine Politik der harten Hand angekündigt und neben der inneren Sicherheit die wirtschaftliche Entwicklung in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt. Aber grundsätzlich haben sich die Programme der beiden Kandidaten nur in Facetten unterschieden.

Wenn unter den Kandidaten kaum Unterschiede auszumachen sind, warum landete dann die indigene Menschenrechtlerin Rigoberta Menchú und Friedensnobelpreisträgerin im ersten Wahlgang nur bei etwa vier Prozent?

Dies hat vor allem damit zu tun, dass Rigoberta Menchú bei den Guatemalteken im Lande längst nicht so angesehen ist, wie es ihr internationales Renommee vermuten ließe. Bei vielen steht sie wegen ihrer langen Auslandsaufenthalte in Verruf, andere bemängeln das Fehlen eines wirklichen politischen Programms. Und vor allem: Auch die anderen Kandidaten standen ihr in Bezug auf multikulturelle Rhetorik nicht nach und besetzten damit ihr Thema.

Mit Álvaro Colom würde erneut ein Sozialdemokrat ein Präsidentenamt in Lateinamerika erobern, wie zuletzt in Chile, Brasilien, Ecuador und Nicaragua. Könnte man dann sagen, dass der Linksruck in Lateinamerika weitergeht?

Ich bin mit dem Schlagwort »Linksruck« eher vorsichtig. Tatsächlich unterscheiden sich die Linkspolitiker in Lateinamerika sehr stark voneinander. Da gibt es einerseits Phänomene wie Chávez und Morales und andererseits eher pragmatische Sozialdemokraten wie Bachelet und Lula da Silva. Auf den ersten Blick vertritt Álvaro Colom das zweite Lager. Aber es ist nach diesem Wahlkampf längst nicht auszumachen, ob er ein sozialdemokratisches Programm hat und dieses umzusetzen weiß.

Der Bürgerkrieg gilt seit 1996 als beendet. Doch Guatemala hat eine der höchsten Verbrechens- und vor allem Mordraten weltweit. Warum kommt das Land einfach nicht zur Ruhe?

Dies hat vor allem mit der Ausbreitung von kriminellen Netzwerken zu tun. Guatemala liegt auf der Drogen-Transitroute von Kolumbien in die Vereinigten Staaten und ist deshalb für die organisierte Kriminalität ausgesprochen attraktiv. In diese Netzwerke sind auch staatliche Strukturen, insbesondere Teile des Militärs, verstrickt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die repressiven Strukturen auf der lokalen Ebene, die »zivilen Selbstverteidigungspatrouillen«, nie aufgelöst wurden.

Wie erfährt die guatemaltekische Bevölkerung die Entwicklung der letzten Jahre?

Nicht nur im Hinblick auf die Kriminalitätsentwicklung ist die Lage desolat. Ein sehr hoher Anteil der Kinder ist unterernährt. Der Preis des wichtigsten Grundnahrungsmittels, Mais, hat sich seit 2001 verdoppelt. Vor diesem Hintergrund ist die Situation für einen Großteil der Bevölkerung einfach ausweglos.

Sie haben bereits einige der größten sozialen Probleme in Guatemala erwähnt. Kann man dem scheidenden Präsidenten Oscar Berger gar keine Verdienste zusprechen?

Sehr wenig! Das Einzige ist, dass die makroökonomische Stabilität im Lande in seiner Amtszeit nicht gefährdet gewesen ist, was nicht heißt, dass sich die soziale Situation nicht weiter verschlechtert hätte.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2007


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