Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Studieren mit Realitätsbezug

Eine sogenannte Volkskanzlei vermittelt in Guatemala Jura-Studenten Einblick in die Praxis und gewährt Mittellosen auf dem Land kostenlose Rechtshilfe

Von Knut Henkel *

Anwälte haben in Guatemala mit der einfachen Bevölkerung wenig zu tun. Um Jura-Studenten einen Realitätsbezug zu vermitteln, schickt die Universität Rafael Landívar sie zum Praxissemester aufs Land.

Anna María Córdova läuft die Treppe mit einem Lächeln hinunter, um einen ihrer Klienten in Empfang zu nehmen. Herzlich begrüßt sie den traditionell gekleideten Familienvater, der einen Sohn dabei hat, und gekommen ist, um sich nach seinem Fall zu erkundigen. Um Hilfe bei einem Konflikt mit den Geschwistern um ein Stück Land und dessen Verwendung hat er gebeten. »Wir versuchen zu vermitteln, aber es kann sein, dass sich die Familie vor Gericht wiedersieht«, erklärt die angehende Anwältin.

Anna María Córdova wird bei ihrer Arbeit von María Quichibamba unterstützt. Die übersetzt vom Zutuhil, einer Maya-Sprache, ins Spanische, denn Anna María Córdova kommt aus Guatemala-Stadt und spricht keine der Maya-Sprachen. »Seit rund drei Monaten arbeitete ich jetzt gemeinsam mit zwei leitenden Anwälten und einem guten halben Dutzend Jura-Studenten im Bufete Popular«, erzählt Córdova. Das ist eine sogenannte Volkskanzlei, die Bedürftigen kostenlose Rechtshilfe bietet. »Wir beraten, schlichten und klagen, wenn nötig, um unseren Klienten zu ihrem Recht zu verhelfen«, schildert die Studentin, die in diesem Jahr ihr Staatsexamen machen will, ihre Arbeit.

Centro de Administración de Justicia, kurz Caj, heißt die Kanzlei formell. Sie befindet sich in Santiago Atitlán, einer Provinzstadt mit rund 48 000 Einwohnern am malerischen Atitlán See. Rund zwei Stunden Fahrt sind es von hier in die Hauptstadt und das Bufete Popular wird von der Universität Rafael Landívar finanziert. Neben der Gewährleistung des Zugang von Einkommensschwachen zur Justiz soll das Bufete Popular den eigenen Studenten den letzten Schliff geben. »Anwälte sind teuer in Guatemala. Die Prozesse dauern ein bis drei Jahre und das kann sich das Gros der Bevölkerung nicht leisten«, erklärt Cizar Cruz. Der erfahrene Jurist leitet gemeinsam mit Kollegin Sharling Tellez die Ausbildungs-Kanzlei am von Vulkanen eingefassten Atitlán See.

Im Caj werden Studenten, die kurz vor dem Staatsexamen stehen, mit der Realität abseits der großen Städte wie Guatemala Stadt oder Quetzaltenango vertraut gemacht. »Das Leben in der Hauptstadt ist nur die halbe Wahrheit. Hier leben die Menschen von so wenig, es müsste viel mehr – vor allem für die Kinder – getan werden. Konflikte sind allgegenwärtig«, schildert Anna María Córdova ihre Eindrücke. Mit intrafamiliärer Gewalt, Missbrauch, Landkonflikten und ausbleibenden Unterhaltszahlungen hat es die Kanzlei immer wieder zu tun. Oft sind es Frauen, die um Hilfe bitten, und ein Katalysator ist María Quichibamba. Die junge indigene Frau ist Sekretärin des Bufete, übersetzt, erklärt lokale Zusammenhänge und vermittelt, wo es geht. Das ist besonders für den juristischen Nachwuchs von der Universität extrem wichtig, denn die müssen sich schließlich in vollkommen fremden Strukturen zurechtfinden.

Das ist ausdrücklich gewollt, denn die 1961 von Jesuiten gegründete Universität Rafael Landívar setzt auf soziale Verantwortung. »Bei uns sind Kurse über Geschichte und Gegenwart unseres Landes obligatorisch. Dabei spielt die soziale Realität eine wichtige Rolle und Praktika außerhalb des Campus sind ausdrücklich erwünscht«, erklärt Rektor Rolando Alvaredo. Nicht nur bei den Juristen, doch die spielen eine entscheidende Rolle für die Zukunft des Landes und deshalb wirbt der Rektor um Mittel im In- und Ausland. Das praktische halbe Jahr, welches die sieben angehenden Anwälte derzeit in Santiago Atitlán absolvieren, wird von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mitfinanziert. Für Stipendien können sich die kurz vor dem Staatsexamen stehenden Studenten bewerben – nicht nur am Bufete in Santiago Atitlán, sondern auch in andere Regionen des Landes sowie in der Hauptstadt. Die Kanzleien, die ihre Dienste umsonst anbieten, sind keine Erfindung der Universität Rafael Landívar, sondern werden auch von anderen Universitäten angeboten, aber die katholische Universität legt großen Wert darauf.

Die Studenten durchlaufen ein Auswahlverfahren, können sich für die Stipendien der KfW oder eines von der Universität bewerben, werden für die Zeit im Bufete vorbereitet und von Profis wie Cizar Cruz und Sharling Tellez vor Ort angelernt. Rahmenbedingungen, die dafür sorgen sollen, dass etwas hängen bleibt, denn schließlich sollen die Studenten lernen, dass Guatemala viele Gesichter hat und die sozialen Herausforderungen immens sind, so Rektor Alvarado.

Ein durchaus erfolgreiches Modell, lauscht man den Studenten. So ist für Ronald Portillo Cordón klar, dass er eine Verantwortung gegenüber den Klienten hat. »Das Bufete ist der einzige Zugang zur Justiz, den die armen Leute haben. Da müssen wir sie optimal vertreten«, erklärt der Jura-Student. Ihm ist klar geworden, dass es eigentlich deutlich mehr Kanzleien geben müsste, die für kleines oder gar kein Geld ihre Dienste anbieten. »Weil das aber nicht so ist, werden viele Delikte nicht geahndet. Es gibt eine Kultur der Straflosigkeit und das Übernehmen von Verantwortung ist selten in Guatemala.« Das fängt bei den Alimenten an, die oft für die eigenen Kinder nicht gezahlt werden, und setzt sich bei der Aufklärung und Ahndung von Menschenrechtsverbrechen fort. »Gesetze werden oft nicht respektiert. Das zieht den Verfall moralischer Werte nach sich«, analysiert Anna María Córdova. Sie hat viel gelernt in den letzten zwölf Wochen. »Hier sehen wir ganz genau, was Guatemala braucht, aber auch wie überfordert und formalistisch unser Justizsystem ist. Die Richter haben es mit viel zu viel Fällen zu tun«, so die junge Frau mit der dunklen Brille. Die sitzt mittlerweile draußen unter einem Baum im Schatten mit dem Familienvater und geht mit ihm seinen Fall durch. Seine Chancen stehen nicht schlecht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. Februar 2014


Zurück zur Guatemala-Seite

Zur Israel-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage