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Abrisskommandos prägen die Szenerie in Haiti

Situation bleibt auch drei Monate nach dem Beben dramatisch

Von Hans-Ulrich Dillmann *

Drei Monate nach dem schweren Erdbeben in Haiti ist Normalität nicht in Sicht. Der Ausnahmezustand wurde unter Protesten der Zivilgesellschaft um 18 Monate verlängert.

Was die haitianische Bevölkerung am meisten braucht, weiß Staatspräsident René Préval perfekt. In den wenigen Fällen, in denen er sich öffentlich in Haitis Medien an die Bewohner des vom Erdbeben geschüttelten Landes wendet, spricht er von »Vertrauen und Geduld«. Vertrauen in seine Regierung und sein Krisenmanagement und Geduld beim Warten auf ausländische Hilfe.

Von der Regierung sind bisher keine Initiativen ausgegangen. Drei Monate nach dem Erdbeben der Stärke 7,0 auf der nach oben offenen Richterskala lebt die Mehrheit der Betroffenen in der haitianischen Hauptstadt in provisorischen Zeltstädten, denen es oft an den elementarsten Einrichtungen fehlt.

Rund um die Zeltstädte vor dem Präsidentenpalast, der inzwischen mit schwerem Räumgerät abgetragen wird und neu aufgebaut werden soll, stinkt es aus den Klohäuschen zum Himmel. Die Tankwagen mit den Absaug- und Reinigungsvorrichtungen kommen den menschlichen Bedürfnissen einfach nicht mehr nach. Rund 1,5 Millionen Menschen leben nach wie vor im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße - und dieses Provisorium wird noch lange Zeit anhalten, befürchten Mitglieder internationaler Hilfsorganisationen.

Für den Wiederaufbau haben Staatschef Préval und seine Regierung bei der Geberkonferenz Ende März in New York Zusagen in Höhe von 5,3 Milliarden US-Dollar für die nächsten 18 Monate bekommen. Ob dieses Geld allerdings wirklich im »Land der Berge« eintrifft, wird sich erst zeigen müssen. Schon oft haben die USA, Kanada und die Mitgliedsstaaten der EU Hilfszahlungen versprochen und dann doch nicht ausgezahlt, weil die Regierung in Port-au-Prince die Voraussetzungen dafür nicht eingehalten hatte.

Die Situation ist und bleibt dramatisch, auch drei Monate nach dem schweren Beben, das weite Teile des Zentrums und östliche Stadtteile verwüstete. »Wo sollen wir denn hin«, fragt Oclore Idimene, die im Schatten der Zuschauertribüne des Fußballstadions Silvio Catore seit Monaten kampiert. Erst wurde sie aus dem Rasengeviert vertrieben, aber niemand bot ihr einen anderen neuen Lebensmittelpunkt an. »Mein Haus ist völlig zerstört. Aber wo ich hingehen soll, haben die Männer von der Stadtverwaltung auch nicht gesagt. Ich bleibe«, versichert sie trotzig.

Derweil planen ausländische Hilfsorganisationen und die haitianische Regierung die Umsiedlung der Obdachlosen in die östlichen Randbezirke von Port-au-Prince, damit neu gebaut werden kann. Die Gelände, auf denen die Zeltstädte für die Wohnungslosen errichtet werden könnten, sind aber bis auf ganz wenige Ausnahmen noch immer nicht ausgewiesen.

Warum sollen die Betroffenen derzeit auch umziehen? Die Trümmerfelder im Zentrum rund um den eingestürzten Präsidentenpalast bieten momentan die besten Verdienstmöglichkeiten. Tausende von Betonspechten sitzen mit Vorschlaghämmern und Fäustlingen auf den Gebäudegerippen, um Betonwände und -decken zu zerbröseln, die Moniereisenkonstruktionen zu zersägen und an fliegende Schrotthändler für zehn Cent das Kilo zu verkaufen. Vor der Küste des Armenhauses Lateinamerikas warten kleinere und größere Frachtschiffe, die das Alteisen in die Schmelztiegel der USA transportieren wollen.

In den ländlichen Regionen verdienen inzwischen viele einen Teil ihres Lebensunterhalts mit Arbeiten beim Beseitigen der Erdbebenschäden. Programme »Geld für Arbeit« haben mittlerweile fast alle ausländischen Hilfsorganisationen in ihrem Unterstützungsrepertoire. »Wir haben Trupps von 20 Personen gebildet, die in ihrer Nachbarschaft durch das Erdbeben baufällig gewordene und von der Stadtverwaltung freigegebene Häuser abreißen«, sagt Rudolf Kögler, der Projektleiter der Deutschen Welthungerhilfe in Petit Goâve. Etwa 60 Prozent der Häuser in der südwestlich von Port-au-Prince gelegenen Hafenstadt mit ihren 25 000 Einwohnern sind zerstört oder so schwer beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen.

Jedes Mitglied des Bautrupps erhält umgerechnet vier Euro, den gesetzlich garantierten Mindestlohn für unqualifizierte Arbeit, wovon jedoch das tägliche Mittagessen abgerechnet wird.

Auch in Städten wie dem schwer zerstörten Leógâne und der südlichen Hafenstadt Jacmel, einst eine Ferienhochburg, sieht man die behelmten, mit bunten T-Shirts ausgerüsteten und mit ausländischen Hilfsgeldern finanzierten offiziellen Abrisskommandos. Auch die Verwaltungen der vom Erdbeben betroffenen Städte versuchen, dem Müllproblem mit Hilfe von Freiwilligen Herr zu werden, die einen Mindestlohn erhalten und dafür die Stadt sauber halten.

* Aus: Neues Deutschland, 19. April 2010


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