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Lehm im Bauch

Steckt hier der Schlüssel zur Weltrevolution? In Haiti haben Bauern eine "Bewegung gegen den Hunger" gegründet

Von Ralf Ledebur, Charles Arthur/IPS *

Vor den nächsten Wahlen in Haiti haben sich Bauern zu einer »Bewegung gegen den Hunger« zusammengeschlossen. Zwölf der 30 Sitze im Senat des karibischen Inselstaates werden am 19. April neu vergeben. Notfalls will die Bewegung Kandidaten für den Urnengang aufstellen. Noch setzt sie allerdings darauf, ihre Ziele außerparlamantarisch durchsetzen zu können.

Seit einigen Wochen organisieren die Bauern Zusammenkünfte und Demonstrationen, werden dabei von in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Auf der bislang größten Demo am 12. Dezember in der Hauptstadt Port-au-Prince protestierten einige tausend gegen ihre in Kauf genommene, wenn nicht forcierte Verelendung. [Siehe hierzu auch: "Neuer Bauernverband verlangt Taten ...".]

Die Kernforderung des Bündnisses sind staatliche Investitionen in den Agrarsektor. Das Land soll wieder unabhängig von Nahrungsmittelimporten werden. Mitte der 80er Jahre produzierten die Bauern noch etwa 80 Prozent der wichtigsten Grundnahrungsmittel (Reis, Mais, Bohnen und Hühnereier). Nach und nach wurde das Land dann in die Importabhängigkeit getrieben. Das Bevölkerungswachstum und unvorhergesehene Ernteverluste waren gewichtige Gründe, noch wichtiger war der Niedergang der Landwirtschaft.

Als Anfang 2008 die Preise für Nahrungsmittelimport explodierten, konnte das Volk sich Reis, Bohnen oder Speiseöl nicht mehr leisten. Im April brachen Hungerunruhen aus. Die Regierung mußte zurücktreten. Staatspräsident René Préval verabschiedete sich für kurze Zeit von den Dogmen der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Er subventionierte sechs Monate lang den Import von Reis. Viel gewonnen war damit nicht, nicht einmal viel Zeit.

Im August und September zogen vier Tropenstürme über das Land. Überflutungen und Erdrutsche forderten Hunderte Tote. Infrastruktur, Felder und Weiden wurden zerstört. Als am 7. November eine vollbesetzte Schule mit dem Namen »La Promesse« (das Versprechen) einstürzte, wiesen einige voller Bitterkeit auf den Symbolgehalt hin.

Schönste Versprechungen

In Haiti gab es die allerschönsten Versprechen auf eine bessere Zukunft, seit der revolutionäre Kampf gegen die Sklaverei im Januar 1804 mit der Unabhängigkeit endete. Dazu ist ein historischer Exkurs angebracht. »Nur in Haiti war die Erklärung der menschlichen Freiheit universell schlüssig«, schreibt Peter Hallward, Philosophieprofessor im britischen Middlesex, in seinem Buch »Damming the Flood« (2008) über diese Revolution, die die französische in mancher Hinsicht überragte. Hallward: »Es gibt kein einziges Ereignis in der gesamten Geschichte der Neuzeit, dessen Implikationen für die vorherrschende globale Ordnung der Dinge bedrohlicher waren.« Die Versklavten wollten nicht zurück zu ihren vorkolonialen Wurzeln. Sie kämpften für die modernen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit.

Der Preis, den sie für ihren »verfrühten« Sieg zu zahlen hatten, war mörderisch. 1825 hob die verjagte Kolonialmacht ein Embargo auf – gegen Zahlung von 150 Millionen Francs »für den Verlust der Sklaven«. Die Summe entsprach etwa dem französischen Jahreshaushalt. Die Schuldknechtschaft des Karibikstaats war damit auf absehbare Zeit gesichert. Noch Ende des 19. Jahrhunderts verschlangen Haitis Zahlungen an Frankreis etwa 80 Prozent des nationalen Haushalts. Die letzte Rate wurde 1947 gezahlt.

2004 forderte Jean-Baptiste Aristide als fehlerhafter, aber bester Präsident, den Haiti jemals hatte, die Rückzahlung dieser Summe von Frankreich. Ohne Erfolg. Aristide, der vor allem in den Slums die politische Selbstorganisation vorangetrieben hatte (»es ist besser, mit dem Volk zusammen falsch zu liegen als gegen das Volk Recht zu haben«), wurde noch im selben Jahr gestürzt. Die Regierungen des Westens hatten daran einen entscheidenden Anteil. Noch einmal Hallward: »Nie wurden die bewährten Taktiken der ›Förderung der Demokratie‹ mit einer derart vernichtenden Wirkung praktiziert wie in Haiti zwischen 2000 und 2004«.

Zwei-Drittel-Elend

Trotz einer gravierenden Landflucht in den letzten Jahrzehnten leben heute noch zwei Drittel der haitianischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Gehungert wird hier wie dort im Armenhaus Amerikas. Etwa die Hälfte der Einwohner des Landes ist unterernährt. Wenn die Nahrungsmittel unerschwinglich werden, floriert das Geschäft mit Plätzchen aus getrocknetem gelben Lehm – in Slums wie der Cité-Soleil, aber auch auf dem Land.

Die neue Allianz der Bauern, die aus diesen menschenunwürdigen Zuständen zurück zur Selbstversorgung wollen, besteht aus zehn Organisationen, darunter landesweite wie »Tèt Kole Ti Peyizan« und »Mouvman Peyizan Nasyonal Kongre Papay« (MPNKP). Dazu kommen Zusammenschlüsse aus Regionen wie Grand’Anse, Nippes und Central Plateau (aus letzterer wird der Lehm für die Plätzchen mit Lastkraftwagen auf die Märkte gekarrt). Konkrete Forderungen an den neuen Regierungschef Michèle Pierre-Louis formuliert Edith Germain Remonvil von der MPNKP: die Landwirtschaft müsse im nächsten Jahreshaushalt höchste Priorität haben, wobei die Investionen einem Agrarentwicklungsplan zu folgen hätten, der auf Selbstversorgung abziele.

Unterstützt wird die »Bewegung gegen den Hunger« von der einflußreichen Nationalen Vereinigung der haitianischen Landwirte (ANDAH). »Ernährungssicherheit«, hieß es in deren Neujahrsbotschaft, »läßt sich nur durch einen Anstieg der Agrarproduktion erreichen«. Es gelte nun, »mit vereinten Kräften im Interesse der Ärmsten eine Agrarreform durchsetzen«. Die ANDAH, die beim Sturz Aristides eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, meint damit keine Bodenreform. Aber aus der von ihr unterstützten Allianz gegen den Hunger könnte sich in nächster Zeit durchaus eine soziale Bewegung von einiger Durchschlagskraft entwickeln. Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind 2011. Und auch wenn Aristide nicht selbst antreten sollte – ein politischer Nachfolger sollte sich in diesem Land finden lassen.

* Aus: junge Welt, 22. Januar 2009


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