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Koloniales Erbe

Die Katastrophe in Haiti erschüttert viele Menschen guten Glaubens. Aber warum ist das Land so arm? Reflexionen von Fidel Castro

Fidel Castro veröffentlichte am Freitag (15. Jan.) eine »Reflexion« unter dem Titel »Die Lehre von Haiti«:

Am Dienstag, kurz vor 18 Uhr kubanischer Zeit, als in Haiti wegen seiner geographischen Lage schon Nacht herrschte, begannen die Fernsehsender Nachrichten zu verbreiten, ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,3 auf der Richter-Skala habe Port-au-Prince schwer getroffen. Das Beben sei nur 15 Kilometer entfernt von der haitianischen Hauptstadt, in der 80 Prozent der Bevölkerung in wackeligen Hütten aus Lehm und Ziegeln hausen, entstanden.

Die Tragödie erschüttert viele Menschen guten Glaubens. Aber vielleicht sind es nur wenige, die daran denken, warum Haiti ein so armes Land ist. Warum hängt seine Bevölkerung zu fast 50 Prozent von den Überweisungen ab, die sie von Familienangehörigen im Ausland erhält? Warum wird nicht auch die Realität analysiert, die zu der gegenwärtigen Lage Haitis und seinem großen Leiden geführt hat?

Das Interessanteste: Niemand verliert ein Wort darüber, daß Haiti das erste Land war, in dem sich 400000 von den Europäern verschleppte und versklavte Afrikaner gegen 30000 weiße Besitzer der Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen erhoben und so die erste große soziale Revolution in unserer Hemisphäre durchführten. Haiti ist ein reines Produkt des Kolonialismus und Imperialismus, von mehr als einem Jahrhundert Ausbeutung seiner Menschen durch härteste Arbeit, von Militärinterventionen und der Entziehung seiner Reichtümer.

Situationen wie die in diesem Land sollten nirgendwo auf der Erde herrschen. Aber aufgrund einer der Welt aufgezwungenen ungerechten internationalen politischen und Wirtschaftsordnung gibt es Zehntausende Städte und Siedlungen in gleicher und manchmal schlimmerer Lage. Die Weltbevölkerung wird nicht nur durch Naturkatastrophen wie jener in Haiti bedroht. Diese sind nur eine Ahnung dessen, was dem Planeten durch den Klimawandel geschehen könnte, der in Kopenhagen tatsächlich nur für Witze und Betrugsmanöver herhalten mußte.

Es ist angebracht, allen Ländern und Institutionen, die Bürger oder Mitglieder durch die Naturkatastrophe in Haiti verloren haben, zu sagen: Wir haben keinen Zweifel, daß sie jetzt die größten Anstrengungen unternehmen, um Menschenleben zu retten und den Schmerz dieses leidenden Volkes zu lindern. Wir können sie nicht für das Naturphänomen verantwortlich machen, daß sich dort ereignet hat, obwohl wir mit der gegenüber Haiti verfolgten Politik nicht einverstanden sind. Aber ich kann nicht darauf verzichten, die Meinung zu äußern, daß es an der Zeit ist, wirkliche und wahrhaftige Lösungen für dieses Brudervolk zu suchen.

Auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung und in anderen Bereichen hat Kuba, obwohl es ein armes und unter einer Blockade leidendes Land ist, seit Jahren mit dem haitianischen Volk zusammengearbeitet. Rund 400 Ärzte und Gesundheitsspezialisten bieten kostenlos ihre Dienste. an In 227 der 337 Kommunen des Landes arbeiten jeden Tag unsere Ärzte. Außerdem wurden nicht weniger als 400 junge Haitianer in unserem Heimatland als Ärzte ausgebildet. Sie werden jetzt mit der Verstärkung zusammenarbeiten, die am Mittwoch nach Haiti gereist ist, um in dieser kritischen Situation Leben zu retten. Ohne besondere Anstrengungen fanden sich fast 1000 Ärzte und Gesundheitsspezialisten, die sich auf den Weg gemacht haben und bereit sind, mit jedem anderen Staat zusammenzuarbeiten, der haitianische Leben retten und Verletzten helfen will.

Eine weitere große Zahl von jungen Haitianern besucht derzeit noch diese Medizinerausbildung in Kuba. Wir kooperieren mit dem haitianischen Volk auch in anderen Bereichen.

Die Chefin unserer medizinischen Brigade informierte in einer knappen Mitteilung, wenige Stunden nachdem sie mit einer Gruppe Ärzte in Port-au-Prince angekommen war: »Die Situation ist schwierig, aber wir haben bereits begonnen, Leben zu retten«. Spät in der Nacht setzte sie sich mit den kubanischen Ärzten und den in der Lateinamerikanischen Medizinschule ELAM ausgebildeten und im Land verteilten Haitianern in Verbindung. Allein in Port-au-Prince hatten sie bereits über 1000 Patienten behandelt, in aller Eile ein nicht eingestürztes Krankenhaus wieder in Betrieb genommen und dort, wo es nötig war, Zelte benutzt. Sie bereiteten sich darauf vor, so schnell wie möglich weitere Zentren zur Notfallbehandlung zu errichten.

Wir sind stolz auf diese Zusammenarbeit, die die kubanischen Ärzte und die in Kuba ausgebildeten jungen haitianischen Ärzte in diesen tragischen Tagen ihren Schwestern und Brüdern in Haiti bieten.

Übersetzung: André Scheer

* Aus: junge Welt, 16. Januar 2010


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