Haitis Erste Frau vor steinigem Weg
Politische Krise dämpft große Erwartungen
Von Hans-Ulrich Dillmann *
Nach mehr als drei Monaten hat Haiti wieder eine funktionierende
Regierung. In den kommenden
Wochen muss die neue Ministerpräsidentin Michèle Pierre-Louis vor beiden
Kammern des
Parlaments ihr Kabinett vorstellen und ihr Regierungsprogramm
verteidigen. Erst danach kann sie
ihre neue Tätigkeit aufnehmen.
Das Gesicht von Michèle Pierre-Louis strahlte nicht vor Zuversicht, als
sie am Donnerstagabend
vergangener Woche auf haitianische Journalisten traf. Vergeblich baten
die Pressevertreter die neue
Regierungschefin um einen Kommentar zu ihrer Wahl. Der Senat des
haitianischen Zwei-Kammer-
Parlaments hatte die 61-Jährige gerade als neue Ministerpräsidentin
akzeptiert. Allerdings stimmten
nur zwölf der 30 Senatoren für sie. Das genügte, da die Verfassung nur
eine Zweidrittelmehrheit bei
einer Mindestanzahl von 18 anwesenden Senatoren vorschreibt.
Das Abstimmungsverhalten der Senatoren zeigt jedoch die künftigen
Schwierigkeiten der
Kabinettschefin auf. Zwar findet die Berufung der
Sozialwissenschaftlerin und Hochschullehrerin in
der haitianischen Zivilgesellschaft und bei vielen
Nichtregierungsorganisationen große Zustimmung.
Aber sie hat keine wirkliche Mehrheit im Parlament.
Schon die Deputierten votierten nur nach tagelangen Debatten, in deren
Mittelpunkt angebliche
»Homosexualität« der geschiedenen Mutter einer Tochter stand, für
Michèle Pierre-Louis. Und im
Senat blockierten vor allem zu evangelikalen Kreisen gehörende
Volksvertreter bald zwei Wochen
die entscheidende Abstimmung.
Die Muskelspiele der Parlamentarier sind berechnet, denn Michèle
Pierre-Louis wird in absehbarer
Zeit ihre Kabinettsliste in Unter- und Oberhaus präsentieren und zur
Abstimmung vorlegen müssen.
Da Staatspräsident René Prevals Hoffnungspartei »Lespwa« im Senat keine
Mehrheit hat, wird
seine neue Regierungschefin die Posten- und Einflusswünsche der
Senatoren und Deputierten
berücksichtigen müssen, um nicht zu scheitern. Dazu kommt, dass sie sich
auf Druck einiger
sozialdemokratischer Abgeordneter auch zu den Anschuldigen über ihre
»moralische
Unzuverlässigkeit« aufgrund ihrer »homosexuellen Neigungen« eindeutig
festgelegt hat: Dies seien
»Verleumdungen und Lügen«, distanzierte sie sich.
Die neue Regierungschefin Michèle Pierre-Louis wird, so scheinen einige
Abgeordnete zu hoffen, ihr
Abstimmungsverhalten durch Zugeständnisse erkaufen, also sowohl die beiden
sozialdemokratischen Blöcke Fusion und Oganizasyon Pèp Kap Lité
(Organisation des kämpfenden
Volkes - OPL) als auch Prevals Lespwa-Parteigänger und die
Aristide-Anhänger von Lavalas in ihre
Kabinett einbinden müssen - und so etwas heißt in Haiti oft auch
finanzielle Zugeständnisse zu
machen.
Auch vier Jahre Einfluss durch die politischen Stabsstellen der
UN-Sicherheitstruppe MINUSTAH
haben an der endemischen Korruption nur wenig geändert. Selbst
ausgebuffte Diplomaten und
kriegsgebietserfahrene Vertreter internationaler Organisationen
verstricken sich in dem feinen
Gewebe vermeintlicher bürokratischer Ineffizienz, die Hilfsprojekte
blockieren, und der nur selten
und wenn, dann mit Geldscheinen, beizukommen ist.
Die haitianischen Exmilitärs fürchten Armeegegnerin Pierre-Louis. Der
Verdacht liegt nahe, dass die
jüngsten militanten Aktionen von ungefähr 150 ehemaligen Armisten ihre
Wahl zur
Ministerpräsidentin torpedieren sollten und nicht nur der Forderung nach
Ausgleichszahlungen für
entgangene Renten dienten. Die Forces Armées d'Haïiti (FADH) waren noch
unter dem 2004
gestürzten Staatspräsidentin Jean-Bertrand Aristide abgeschafft worden.
Jeder Tag politischer Instabilität verstärkt die ökonomische Krise im
Land. Die Preise galoppieren,
die einheimische Wirtschaft ist am Ende. Haiti ist eines der wichtigsten
Flugdrehkreuze für den
Transport von Drogen in die USA. Die Einnahmen wiederum fließen in die
einheimische Wirtschaft
und machen das Land abhängig und anfällig von Forderungen einer Clique
Neureicher, die aufgrund
ihres finanziellen Potenzials politischen Einfluss verlangen und auch
erhalten. Es sind nicht nur böse
Zungen, die behaupten, dass politische Kreise im Armenhaus
Lateinamerikas nichts sehnlicher
wünschen als eine Fortsetzung der politischen Krise - damit sie
ungeniert ihren lukrativen
Geschäften nachgehen können. Ein steiniger Weg liegt vor Michèle
Pierre-Louis.
* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2008
Prevals Wahl
Michèle Pierre-Louis / Die 60-Jährige wird Regierungschefin in Haiti
Von Hans-Ulrich Dillmann **
Eine Frau hat in Haiti das führende Regierungsamt erobert: Michèle
Pierre-Louis. Bekannte und persönliche Freunde, Diplomaten und
Repräsentanten internationaler Hilfsorganisationen beschreiben die
60-Jährige mit der krausen Kurzhaarfrisur als eine effiziente,
kompetente und couragierte Kämpferin gegen Armut, Korruption und
Vorurteile – und vor allem als nicht korrupt. »Sie ist wirklich
integer«, sagt ein enger Projektpartner.
Seit 13 Jahren leitet Pierre-Louis, die sowohl in Haiti als auch in den
USA Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert hat, die haitianische
Fondasyon Konesans Ak Libète (FOKAL). Die »Stiftung Kenntnis und
Freiheit« hat sich vor allem mit Alphabetisierungskursen und dem Aufbau
von Bibliotheken einen Namen gemacht.
Michèle Pierre-Louis, die in der südwestlichen Hafenstadt Jérémie
geboren wurde, saß schon einmal in der Regierung. Für den 2004 gewaltsam
gestürzten Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide koordinierte sie im
Ministerrang die Zusammenarbeit zwischen Staatschef, Ministerpräsident
und den Ministerien. Später ging sie allerdings auf Distanz zu ihrem
ehemaligen Weggefährten Aristide.
Mit dem derzeitigen Staatspräsidenten René Preval verbindet sie nicht
nur eine persönliche Freundschaft, sie dient ihm gegenwärtig auch noch
als bildungspolitische Beraterin. Preval war im Parlament bereits mit
zwei Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gescheitert. Der
Posten ist vakant, seit der bisherige Amtsinhaber nach Hungerunruhen im
April vom Senat zum Rücktritt gezwungen wurde.
Die Nominierung einer Vertrauten Prevals machte die geschiedene Mutter
einer Tochter prompt zur Zielscheibe einer Schmutzkampagne. Im Internet
verbreiteten vor allem evangelikale Kreise mit schlüpfrigen Kommentaren
Zweifel an ihrer »moralischen Zuverlässigkeit«. Mitglieder der
Deputiertenkammer stellten Fragen nach »homosexuellen Neigungen«. Hatte
sie den Abgeordneten im Unterhaus Äußerungen zu ihrem Privatleben noch
verweigert, knickte Michèle Pierre-Louis am Mittwoch doch ein: Es
handele sich um »Verleumdungen und Lügen«, versicherte sie vor den
Senatoren. Nur nach dieser Distanzierung fand sie dort eine Mehrheit.
** Aus: Neues Deutschland, 2. August 2008
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