Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Haitis Erste Frau vor steinigem Weg

Politische Krise dämpft große Erwartungen

Von Hans-Ulrich Dillmann *

Nach mehr als drei Monaten hat Haiti wieder eine funktionierende Regierung. In den kommenden Wochen muss die neue Ministerpräsidentin Michèle Pierre-Louis vor beiden Kammern des Parlaments ihr Kabinett vorstellen und ihr Regierungsprogramm verteidigen. Erst danach kann sie ihre neue Tätigkeit aufnehmen.

Das Gesicht von Michèle Pierre-Louis strahlte nicht vor Zuversicht, als sie am Donnerstagabend vergangener Woche auf haitianische Journalisten traf. Vergeblich baten die Pressevertreter die neue Regierungschefin um einen Kommentar zu ihrer Wahl. Der Senat des haitianischen Zwei-Kammer- Parlaments hatte die 61-Jährige gerade als neue Ministerpräsidentin akzeptiert. Allerdings stimmten nur zwölf der 30 Senatoren für sie. Das genügte, da die Verfassung nur eine Zweidrittelmehrheit bei einer Mindestanzahl von 18 anwesenden Senatoren vorschreibt.

Das Abstimmungsverhalten der Senatoren zeigt jedoch die künftigen Schwierigkeiten der Kabinettschefin auf. Zwar findet die Berufung der Sozialwissenschaftlerin und Hochschullehrerin in der haitianischen Zivilgesellschaft und bei vielen Nichtregierungsorganisationen große Zustimmung.

Aber sie hat keine wirkliche Mehrheit im Parlament. Schon die Deputierten votierten nur nach tagelangen Debatten, in deren Mittelpunkt angebliche »Homosexualität« der geschiedenen Mutter einer Tochter stand, für Michèle Pierre-Louis. Und im Senat blockierten vor allem zu evangelikalen Kreisen gehörende Volksvertreter bald zwei Wochen die entscheidende Abstimmung.

Die Muskelspiele der Parlamentarier sind berechnet, denn Michèle Pierre-Louis wird in absehbarer Zeit ihre Kabinettsliste in Unter- und Oberhaus präsentieren und zur Abstimmung vorlegen müssen. Da Staatspräsident René Prevals Hoffnungspartei »Lespwa« im Senat keine Mehrheit hat, wird seine neue Regierungschefin die Posten- und Einflusswünsche der Senatoren und Deputierten berücksichtigen müssen, um nicht zu scheitern. Dazu kommt, dass sie sich auf Druck einiger sozialdemokratischer Abgeordneter auch zu den Anschuldigen über ihre »moralische Unzuverlässigkeit« aufgrund ihrer »homosexuellen Neigungen« eindeutig festgelegt hat: Dies seien »Verleumdungen und Lügen«, distanzierte sie sich.

Die neue Regierungschefin Michèle Pierre-Louis wird, so scheinen einige Abgeordnete zu hoffen, ihr Abstimmungsverhalten durch Zugeständnisse erkaufen, also sowohl die beiden sozialdemokratischen Blöcke Fusion und Oganizasyon Pèp Kap Lité (Organisation des kämpfenden Volkes - OPL) als auch Prevals Lespwa-Parteigänger und die Aristide-Anhänger von Lavalas in ihre Kabinett einbinden müssen - und so etwas heißt in Haiti oft auch finanzielle Zugeständnisse zu machen.

Auch vier Jahre Einfluss durch die politischen Stabsstellen der UN-Sicherheitstruppe MINUSTAH haben an der endemischen Korruption nur wenig geändert. Selbst ausgebuffte Diplomaten und kriegsgebietserfahrene Vertreter internationaler Organisationen verstricken sich in dem feinen Gewebe vermeintlicher bürokratischer Ineffizienz, die Hilfsprojekte blockieren, und der nur selten und wenn, dann mit Geldscheinen, beizukommen ist.

Die haitianischen Exmilitärs fürchten Armeegegnerin Pierre-Louis. Der Verdacht liegt nahe, dass die jüngsten militanten Aktionen von ungefähr 150 ehemaligen Armisten ihre Wahl zur Ministerpräsidentin torpedieren sollten und nicht nur der Forderung nach Ausgleichszahlungen für entgangene Renten dienten. Die Forces Armées d'Haïiti (FADH) waren noch unter dem 2004 gestürzten Staatspräsidentin Jean-Bertrand Aristide abgeschafft worden.

Jeder Tag politischer Instabilität verstärkt die ökonomische Krise im Land. Die Preise galoppieren, die einheimische Wirtschaft ist am Ende. Haiti ist eines der wichtigsten Flugdrehkreuze für den Transport von Drogen in die USA. Die Einnahmen wiederum fließen in die einheimische Wirtschaft und machen das Land abhängig und anfällig von Forderungen einer Clique Neureicher, die aufgrund ihres finanziellen Potenzials politischen Einfluss verlangen und auch erhalten. Es sind nicht nur böse Zungen, die behaupten, dass politische Kreise im Armenhaus Lateinamerikas nichts sehnlicher wünschen als eine Fortsetzung der politischen Krise - damit sie ungeniert ihren lukrativen Geschäften nachgehen können. Ein steiniger Weg liegt vor Michèle Pierre-Louis.

* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2008

Prevals Wahl

Michèle Pierre-Louis / Die 60-Jährige wird Regierungschefin in Haiti

Von Hans-Ulrich Dillmann **

Eine Frau hat in Haiti das führende Regierungsamt erobert: Michèle Pierre-Louis. Bekannte und persönliche Freunde, Diplomaten und Repräsentanten internationaler Hilfsorganisationen beschreiben die 60-Jährige mit der krausen Kurzhaarfrisur als eine effiziente, kompetente und couragierte Kämpferin gegen Armut, Korruption und Vorurteile – und vor allem als nicht korrupt. »Sie ist wirklich integer«, sagt ein enger Projektpartner.

Seit 13 Jahren leitet Pierre-Louis, die sowohl in Haiti als auch in den USA Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert hat, die haitianische Fondasyon Konesans Ak Libète (FOKAL). Die »Stiftung Kenntnis und Freiheit« hat sich vor allem mit Alphabetisierungskursen und dem Aufbau von Bibliotheken einen Namen gemacht.

Michèle Pierre-Louis, die in der südwestlichen Hafenstadt Jérémie geboren wurde, saß schon einmal in der Regierung. Für den 2004 gewaltsam gestürzten Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide koordinierte sie im Ministerrang die Zusammenarbeit zwischen Staatschef, Ministerpräsident und den Ministerien. Später ging sie allerdings auf Distanz zu ihrem ehemaligen Weggefährten Aristide.

Mit dem derzeitigen Staatspräsidenten René Preval verbindet sie nicht nur eine persönliche Freundschaft, sie dient ihm gegenwärtig auch noch als bildungspolitische Beraterin. Preval war im Parlament bereits mit zwei Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gescheitert. Der Posten ist vakant, seit der bisherige Amtsinhaber nach Hungerunruhen im April vom Senat zum Rücktritt gezwungen wurde.

Die Nominierung einer Vertrauten Prevals machte die geschiedene Mutter einer Tochter prompt zur Zielscheibe einer Schmutzkampagne. Im Internet verbreiteten vor allem evangelikale Kreise mit schlüpfrigen Kommentaren Zweifel an ihrer »moralischen Zuverlässigkeit«. Mitglieder der Deputiertenkammer stellten Fragen nach »homosexuellen Neigungen«. Hatte sie den Abgeordneten im Unterhaus Äußerungen zu ihrem Privatleben noch verweigert, knickte Michèle Pierre-Louis am Mittwoch doch ein: Es handele sich um »Verleumdungen und Lügen«, versicherte sie vor den Senatoren. Nur nach dieser Distanzierung fand sie dort eine Mehrheit.

** Aus: Neues Deutschland, 2. August 2008




Zurück zur Haiti-Seite

Zurück zur Homepage