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Zweifel an Washingtons Selbstlosigkeit

Haitianischer Schriftsteller Danticat: Wir sind nur eine dramatische Story im Fernsehen

Von Max Böhnel, New York *

An Hunderten von Orten in den USA versammelten sich am gestrigen Martin-Luther-King-Feiertag Zehntausende von Menschen, um nicht nur des ermordeten Bürgerrechtlers zu gedenken, sondern auch Lebensmittel, Kleidung und Geld für die Erdbebenopfer in Haiti zu spenden.

Trotz der Wirtschaftskrise ist die berühmte Spendenfreudigkeit der amerikanischen Bevölkerung ungebrochen. Am Wochenende hatte Ex-Präsident William Clinton gemeinsam mit seinen beiden Amtsnachfolgern George Bush jun. und Barack Obama zur Hilfe aufgerufen. »In diesen schwierigen Stunden steht Amerika zusammen«, sagte Obama im Weißen Haus. Die USA hätten eine der »größten Hilfsaktionen« ihrer Geschichte für das Erdbebengebiet in Haiti gestartet. Die Hilfeleistungen für den Karibikstaat würden »Monate und Jahre« laufen. »Wir stehen der Bevölkerung von Haiti bei, die eine so unglaubliche Widerstandsfähigkeit gezeigt hat, und wir werden ihr helfen, von vorne zu beginnen und wiederaufzubauen«, sagte Obama. Clinton, der UN-Sonderbeauftragter für Haiti ist, und Bush übernahmen die Leitung der »Clinton-Bush-Stiftung für Haiti«, an die Geld gespendet werden soll. Die Priorität liege derzeit bei der Lieferung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Trinkwasser. Anschließend beginne der Wiederaufbau, hieß es.

Um Aufmerksamkeit ringende Hollywood-Stars ließen sich nicht lumpen. Brad Pitt, Angelina Jolie, Sandra Bullock und Gisele Bündchen spendeten jeweils eine Million Dollar. George Clooney wird diese Woche im Fernsehsender MTV eine Spendensendung moderieren. Die Stiftung des Golfspielers Tiger Woods sagte drei Millionen Dollar zu.

Die USA-Regierung hatte vorige Woche humanitäre Hilfe in Höhe von 100 Millionen Dollar angekündigt, einen Flugzeugträger und eine Kompanie der 82. Luftlandedivision nach Haiti entsandt. Am Montag trafen 2000 weitere Marineinfanteristen vor der Küste ein. Nach Presseberichten kontrollieren USA-Truppen den Flughafen von Port-au-Prince mehr schlecht als recht. Hunderte Tonnen von Hilfsgütern, die von Hilfsorganisationen geschickt wurden, sollen demnach dort feststecken.

Die in Genf ansässige Organisation »Ärzte ohne Grenzen« kritisierte am Sonntag, es gebe »wenig Anzeichen für eine signifikante Verteilung der Hilfe«. Der Sprecher der Organisation Jason Cone bemängelte die falsche Prioritätensetzung der USA. Es gehe den USA bisher mehr um die Sicherung der Flughafens und die Bedürfnisse des Militärs statt um medizinische Hilfe und Ausrüstung.

In den Medien lobten die Funktionäre zahlreicher Hilfsorganisationen die große Spendenbereitschaft, wiesen aber gleichzeitig auf das Kurzzeitgedächtnis hin, das mit humanitären Aktivitäten verbunden ist. Im Augenblick handle es sich um eine »dramatische Story« im Fernsehen, sagte der im Miami lebende haitianische Schriftsteller Edwidge Danticat, »aber wenn die Kameras verschwinden, blicken die Menschen wieder weg«. Die Journalistin und Haiti-Expertin Amy Wilentz äußerte sich ebenfalls skeptisch. Die Haitianer seien »nur beliebt, wenn sie sterben«. Tatsächlich lauten die gängigen Klischees, die von dem verarmten und zerstörten karibischen Nachbarland gepflegt werden, »boat people«, »Chaos« und »Voodoo«.

Wenigen linken Kritikern blieb es vorgehalten, auf die traditionelle interventionistische USA-Außenpolitik in ihrem »Hinterhof« hinzuweisen. Der in Miami lebende Journalist Yves Colon führte aus, die USA würden »in Krisenzeiten mit dem Fallschirm in Haiti abspringen und dann schnellstmöglich wieder abziehen«. Das Ziel bestehe darin, das »bloße Ausbluten zu verhindern«.

In dem Radioprogramm »Democracy Now« sagte der Gründer und Ex-Leiter der linken Organisation »Transafrica Forum« Randall Robinson, er sei enttäuscht, dass Obama ausgerechnet Clinton und Bush zur Spendenkoordination aufgerufen habe. »Bush war für die Zerstörung der haitianischen Demokratie 2004 verantwortlich«, sagte Robinson. Bush und amerikanische Streitkräfte hätten damals den Präsidenten Jean-Ber-trand Aristide nach Afrika entführt, während Clinton dem Land zuvor neoliberale »Reformen« oktroyiert habe. Das Armenhaus der Karibik wurde seitdem mit agrar-industriellen Produkten aus den USA überschwemmt - was die Binnenproduktion von Lebensmitteln massiv einschränkte und den Zusammenbruch der heimischen Landwirtschaft beschleunigte.

Die kanadische Linke Naomi Klein warnte in der vergangenen Woche bei einem Vortrag in New York vor einem erneuten »verordneten wirtschaftlichen Schockprogramm« beim Wiederaufbau Haitis. Es müsse genau darauf geachtet werden, dass die Hilfe an Haiti nicht aus an Konditionen gebundenen Krediten besteht.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2010

Die beiden Bürden Haitis

Von Harald Neuber **

Exakt eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben von Haiti ist die Opferzahl nach wie vor unklar. Die Ausmaße lassen sich rational ohnehin nicht mehr erfassen. Eine weitere Unklarheit wird selbst bleiben, wenn die UNO in einigen Wochen, vielleicht Monaten, eine endgültige Zahl der Opfer nennt: Wie viele von ihnen wurden vom Erdbeben getötet, wie viele vom Kapitalismus? Wie selten in der Geschichte stehen dieses System und der Tod zehntausender Menschen in einer solch direkten Verbindung wie nun in Haiti. Die meisten Toten, das ist schon jetzt klar, sind in den Armenvierteln zu beklagen. Diese Siedlungen sind zu einem erheblichen Teil von ehemaligen Landarbeiterfamilien bevölkert. Sie kamen nach Port-au-Prince und in andere Städte, weil sie sich mit ihren Produkten nicht gegen die aus Washington von US-Regierung und Internationalem Währungsfonds aufgezwungenen Billigimporte behaupten konnten. Die Handelsliberalisierung radierte zunächst die Landwirtschaft aus, dann tötete das Beben die Landarbeiter. Die Schwächung des Staates und der Abbau der Sozialsysteme tat sein Übriges. Wie viele Verletzte würden in diesem Moment nicht sterben, wenn Haiti ein so vorbildliches Gesundheitssystem wie Kuba hätte? Tatsächlich aber ächzt Haiti unter einer doppelten Bürde: dem Unglück der Natur und dem Elend des Systems.

Vor diesem Hintergrund erscheint auch die massive Militarisierung des Karibikstaates durch die USA vor einem anderen Hintergrund. Bis zu zehntausend Soldaten hat Washington in den vergangenen Tagen nach Haiti mobilisiert, den Kornsack auf der einen Seite, das Gewehr auf der anderen. Die USA, so zeigt sich, können aus ihrer klassischen imperialistischen Rolle nicht ausbrechen. Obgleich sie selbst Teil der Misere sind.

** Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2010


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