Haiti braucht vor allem Hilfe zur Selbsthilfe
Bill Quigley: Militarisierung hemmt und schadet dem Land
Bill Quigley ist Menschenrechtsanwalt und Professor für Recht an
der Loyola-Universität in New Orleans. Mit dem Direktor des 1966 in den
USA gegründeten Zentrums für Verfassungsrechte, das aus der
Bürgerrechtsbewegung hervorging, sprach für das "Neue Deutschland" (ND)
Harald Neuber.
ND: Die USA haben nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti über 10 000
Soldaten in den Karibikstaat geschickt, rund 5000 von ihnen sind nach
Angaben des Fernsehsenders CBS nach wie vor im Katastrophengebiet.
Weshalb diese massive Truppenentsendung?
Quigley: Die Obama-Regierung hat sich nach der Naturkatastrophe
entschieden, den Fokus auf Sicherheitsfragen zu legen. Sicherheit zu
schaffen ist aber gleichbedeutend mit der Mobilisierung der Armee. So
erklärt sich die massive Militarisierung. Nicht nur der Flughafen von
Port-au-Prince wurde von der US-Armee übernommen. Die Militärs haben
auch andernorts das Kommando an sich gerissen. Viele Experten halten das
für einen der zentralen Fehler, denn humanitäre Hilfe und militärische
Einsätze haben unterschiedliche Ziele.
Dennoch dauern die Berichte über Sicherheitsprobleme an. Sie haben
selbst Kontakt zu Helfern vor Ort. Wie ist die Lage?
Die Angst und die Sorge der haitianischen Bevölkerung nach dieser
schrecklichen Katastrophe ist leider einer der Hauptgründe für die
militaristische Reaktion. Helfer, so lautet die Botschaft, müssen vor
den Hilfsbedürftigen beschützt werden. Das ist aber nicht wahr, denn
kein einziger Helfer wurde in den vergangenen Wochen angegriffen oder
gar verletzt.
Was müsste also anders gemacht werden?
Statt Militärs zu entsenden, müssten Funktionsträger an der Basis, in
den Gemeinden, in die Hilfsaktionen eingebunden werden. Sie kennen am
besten die Lage vor Ort, die Menschen in der Nachbarschaft, die
Bedürfnisse und die lokalen Gegebenheiten.
Im Umkehrschluss: Welche Folgen hat denn die militärische Variante?
Kurzfristig wurde und wird die notwendige Hilfe für die Bevölkerung
aufgehalten. Auch das Bild nach außen wird beeinflusst: Haitianer gelten
mehr als Furcht einflößend denn als hilfsbedürftig. Das beeinflusst ohne
Zweifel die Hilfsbereitschaft. Vor allem aber fließen viel Energie und
Geld in den Unterhalt der massiven Truppenverbände, statt, wie es
notwendig wäre, in die Hilfe.
Vor allem in Lateinamerika wird die Truppenentsendung der USA
kritisiert. Welche Interessen hat Washington in Haiti?
Die Reaktion steht im Einklang mit den historischen Beziehungen beider
Staaten. Die USA haben Haiti in der Vergangenheit wiederholt besetzt -
und das könnte natürlich wieder geschehen. Das Hauptinteresse der USA
besteht darin, den Einfluss lateinamerikanischer Staaten in Haiti zu
begrenzen. Die USA wollen ihren direkten Einfluss behalten, darum geht es.
Sie stehen in ständiger Verbindung mit sozialen und humanitären
Organisationen, die in Haiti arbeiten. Wie lautet Ihre Zwischenbilanz:
Wie sollte die US-Regierung künftig vorgehen?
Die USA und andere Staaten sollten mit den Gemeinden an Ort und Stelle,
mit ihren Funktionsträgern und lokalen Strukturen arbeiten. Es muss
darum gehen, die Leute in Haiti zu befähigen, sich selbst zu helfen.
Eine Lehre ist auch, dass Regierungsstellen und
Nichtregierungsorganisationen ihre Entscheidungen und finanziellen
Interessen offen legen sollten. Und schließlich sollte man nach einer
bekannten Prämisse vorgehen: Man muss die Bevölkerung Haitis so
behandeln wie man selbst in einer solchen Situation behandelt werden möchte.
* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2010
Wieder Evakuierungen nach Florida
Kinderschmuggel in Haiti - Polizei nimmt zehn US-Helfer fest **
Schwer verletzte haitianische Erdbebenopfer können darauf hoffen, wieder
zur Behandlung in die USA geflogen zu werden. Ein Sprecher des Weißen
Hauses teilte mit, die USA wollten die ausgesetzten Evakuationsflüge aus
Port-au-Prince wieder aufnehmen. Unterdessen startete das
Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen einen neuen Versuch,
in einer groß angelegten Aktion Lebensmittel zu den Not leidenden
Haitianern zu bringen. Soldaten der UN-Mission MINUSTAH, der US-Armee
und haitianische Polizisten überwachten die Verteilung. Zunächst wurden
keine gewaltsamen Zwischenfälle bekannt.
Die Flüge nach Florida waren am Mittwoch ausgesetzt worden, weil die
Finanzierung der Behandlung der Verletzten nicht geklärt war. Zuvor
hatte sich der Gouverneur des Bundesstaates, Charlie Crist, bei der
Regierung in Washington darüber beklagt, dass die Krankenhäuser an die
Grenze der Belastbarkeit geraten seien. Crist forderte außerdem die
Freigabe von Bundesmitteln, zusätzliches Personal und Evakuierungsflüge
auch in andere US-Staaten.
An der Verteilungsaktion des WFP sind mehrere internationale
Hilfsorganisationen beteiligt, die seit gut zwei Wochen versuchen,
Lebensmittel auszugeben, ohne Gewalt auszulösen. Erneut werden die
25-Kilo-Säcke mit Reis vor allem an Frauen verteilt. Die Empfänger der
Hilfe mussten sich durch einen Gutschein ausweisen. Bei früheren
Aktionen war es zu Ausschreitungen bei der Verteilung von Lebensmitteln
gekommen.
Derweil haben US-amerikanische Helfer offenbar versucht, 33 Kinder in
die benachbarte Dominikanische Republik zu verschleppen. Von dort aus
sollten sie nach Angaben der haitianischen Regierung an Adoptiveltern
vermittelt werden. Die vermeintlichen Waisenkinder, die in Wirklichkeit
noch Familie hätten, seien mittlerweile in der Obhut des SOS-Kinderdorfs
Santo in Haiti, teilte die Organisation SOS-Kinderdörfer am Montag in
München mit.
Die haitianische Polizei hatte am Wochenende den Transport mit den
Kindern in Grenznähe gestoppt und zehn Helfer der
US-Baptisten-Organisation »New Life Children's Refuge« wegen
mutmaßlichen Kinderhandels festgenommen. Nach Angaben der
SOS-Kinderdörfer trafen die Kinder »völlig verstört, hungrig und
durstig« in Santo ein, wo sie sofort medizinisch versorgt und untersucht
wurden. Nun müssten rasch Eltern und Angehörige ausfindig gemacht
werden. »Der Vorfall zeigt einmal mehr die Gefahren auf, denen Kinder
nach Katastrophen durch Kinderhandel ausgesetzt sind«, sagte der
Geschäftsführer der SOS-Kinderdörfer, Wilfried Vyslozil.
** Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2010
Kidnapper für Christus
In Haiti festgenommene Kindesentführer sind religiöse Fundamentalisten
Von André Scheer ***
Die Verhaftung von zehn US-Bürgern in Haiti schlägt weiter hohe Wellen. Die haitianische Polizei hatte am Samstag die fünf Männer und fünf Frauen nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik gestoppt und festgenommen, als diese mit 33 Kindern im Alter zwischen zwei Monaten und zwölf Jahren das Land verlassen wollten. Da die Verdächtigen keine amtlichen Papiere für die Kinder bei sich hatten, geht die haitianische Polizei davon aus, daß sie einem Fall von Kinderhandel auf die Spur gekommen ist. Entgegen den Darstellungen der mutmaßlichen Entführer, die erklärt haben, die Kinder hätten bei dem Erdbeben vom 12. Januar ihre Eltern verloren und sollten nun in ein Waisenhaus im Nachbarland gebracht werden, sagten mehrere Kinder aus, daß ihre Eltern noch lebten. »Ich bin doch keine Waise«, sagte etwa ein achtjähriges Mädchen weinend. Sie glaubte, von ihrer Mutter zu wohlmeinenden Menschen auf einen Kurzurlaub geschickt worden zu sein. Die Eltern waren offenbar mit unrealistischen Versprechungen wie von einem Sommercamp mit Swimmingpool dazu überredet worden, ihre Kinder einer Organisation namens »New Life Children's Refuge« (NLCR) anzuvertrauen.
Diese Organisation gehört zur christlich-fundamentalistischen »Southern Baptist Convention«, einem Zusammenschluß baptistischer Kirchengemeinden aus den Südstaaten der USA. Aus diesen sind solche Figuren wie der rechtsextreme Fernsehprediger Pat Robertson hervorgegangen, der nach dem Erdbeben erklärt hatte, dieses sei die Strafe Gottes gewesen, weil die Haitianer zur Erlangung ihrer Unabhängigkeit einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hätten. In einer schwülstigen Projektvorstellung, die auf der Homepage der »Eastside Baptist Church« abgerufen werden kann, heißt es: »NLCR betet und sucht Menschen, die ein Herz für Gott und den Wunsch haben, Gottes Liebe mit diesen wunderhübschen Kindern zu teilen, indem sie ihnen helfen, gesund zu werden und ein neues Leben in Christus zu finden.«
Das haitianische Sozialministerium übergab die Kinder am Sonntag zunächst dem SOS-Kinderdorf Santo in Haiti. Diese kamen dort völlig verstört, hungrig und durstig an und wurden versorgt und medizinisch untersucht. Oberste Priorität habe nun, Eltern und Angehörige der Kinder ausfindig zu machen und sie wieder mit ihren Familien zu vereinen, teilten Sprecher des Kinderdorfes mit.
*** Aus: junge Welt, 2. Februar 2010
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