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Die Chance nach der Katastrophe

Zwei Monate nach dem Erdbeben brauchen die Menschen in Haiti vor allem eins: Hilfe zur Selbsthilfe, berichten aus dem Land zurückgekehrte Mitarbeiter von Hilfsorganisationen

Von Sabine Sölbeck *

Mitten in der Katastrophe keimt ein Funken Hoffnung. Mehr als 200 000 Menschenleben forderte das Erdbeben auf Haiti am 12. Januar dieses Jahres, die Infrastruktur wurde zu fast 90 Prozent zerstört. Dennoch verhalten sich die Haitianer ruhig, es ist kaum zu Plünderungen gekommen. Die Menschen sehen die Katastrophe als Chance auf wirklich tief greifende Veränderungen, eine Chance auf Arbeit und darauf, der Armut zu entrinnen.

Wenigstens solange die Hilfsorganisationen im Lande sind. Einheimische können bei ihnen Arbeit finden und Geld verdienen, berichtet Katja Holmberg, Krankenschwester und Health-Expertin bei Caritas international. Ihr Kollege Rasmus Stern, der als Logistiker bei der Organisation arbeitet, schätzt die Lage ähnlich ein. Das Wichtigste sei, den Leuten Arbeit zu geben, um das Trauma zu bewältigen. Überzeugend seien die anlaufenden »cash-for-work«-Programme. Diese stellen Leute ein, die Trümmer in der Stadt beseitigen, Straßen reparieren, den Handel beleben. Menschen erhalten ein Einkommen nach der Katastrophe. Die Haitianer müssen zu einem geregelten Tagesablauf finden.

Mammutaufgabe Wiederaufbau

»Eine Mammutaufgabe« sei der Wiederaufbau, sagt Sabine Wilke, Mitarbeiterin der Hilfsorganisation CARE Deutschland-Luxemburg. Wenn Rasmus Stern über einen frustrierenden Tag in Haiti spricht, berichtet er über die aufreibende Bürokratie. Die UNO hat die Strukturen übernommen, die UNO sei sicher hilfreich für die Sicherung der Transporte. Doch es sind teils lange Wege, sagt der Logistiker, bis man einen Konvoi auf die Straße bekommt.

Rasmus Stern ist über Santo Domingo auf dem Landweg in die Hauptstadt Port-au-Prince gekommen. Mit der Grenzüberschreitung, sagt er, war man in einer anderen Welt. Je näher er der Hauptstadt kam, desto klarer wurde das Ausmaß der Zerstörung. Ein bedrohliches Szenario. Bewundernswert fand er, dass sich bereits zehn Tage nach dem Erdbeben der Markt reorganisiert hatte. Es gab die ersten Straßenverkäufer. Doch ohne Geld keine Kaufkraft. Viele Haitianer fragten bei den Hilfsorganisationen nach Arbeit - sei es als Fahrer, Übersetzer oder Hilfsarbeiter.

Am stärksten betroffen vom Erdbeben sind Port-au-Prince, das eine Autostunde entfernte Léogâne, der Vorort Carrefour und die Stadtteile Delmas und Pétionville. Als Sabine Wilke Anfang Februar einreiste, sah sie ein Land voll von provisorischen Lagern. Die CARE-Mitarbeiterin hat zwei Nachbeben erlebt. »Plötzlich wackelte der Boden und man wusste nicht, wie man reagieren soll«, berichtet sie.

Alle Helfer waren mit dem gleichen Problem konfrontiert: der Zeit. Die Helfer mussten dafür sorgen, dass die Hilfe schnell ankam. Und sie mussten effizient sein, doppelte Arbeit vermeiden. Wichtig war es, die Menschen über die Hilfsangebote zu informieren. Radiobeiträge wurden produziert. 27 lokale Radiostationen strahlten auf Kreolisch aus, warum Plastikplanen verteilt und diese aufgebaut werden, was dabei zu beachten sei, an wen man sich bei Problemen wendet. Das Radio wurde so zum wichtigsten Informationsmedium, denn die Zeitungsdruckereien waren komplett zerstört. Die Menschen in Haiti sind allerdings noch aus einem anderen Grund auf das Radio als Informationsquelle angewiesen: Die Analphabetenrate liegt annähernd bei 50 Prozent.

Auch mehr als zwei Monate nach dem Erdbeben sind die Lager mit Menschen überfüllt. Jetzt beginnt die Regenzeit. Zur Zeit, so berichten die Helfer, versuchen die Hilfsorganisationen noch mehr Wassertanks zu installieren, die frisches Trinkwasser liefern, und Latrinen aufzustellen. Ein großes Problem sind nämlich die Abwässer. Die Exkremente liegen neben den Camps. Die Regierung sucht seit Februar nach Gelände außerhalb der Stadt, um dort Übergangsunterkünfte zu bauen. Es müssen Unterkünfte für mehrere Monate sein, die erdbeben- und sturmsicher sind. Im Juni beginnt die Zeit der Wirbelstürme. Bis dahin müssen die Menschen sichere Unterkünfte haben.

Holmberg, Stern und Wilke berichten von einem anstrengenden Einsatz. Sechzehn Stunden am Tag, Hitze, die Unterkunft beengt, auf den Straßen kollabierte Menschen. Und auch die Helfer wurden mit der alltäglichen Gewalt in Haiti konfrontiert. Rasmus Stern erlebte einen sogenannten Drive-by. Von einem vorüber fahrenden Motorrad aus wurde auf der Straße ein Mann erschossen, wohl eine alte Rechnung, die beglichen wurde.

Katja Holmberg war zehn Tage nach dem Beben vor Ort. Sie arbeitete bereits 2000 bis 2004 in Haiti, in einem Krankhaus in einer ländlichen Region. Ihre Erfahrungen verdeutlichen die haitianischen Probleme. Die Menschen haben kaum eine geregelte Arbeit. Meist gibt es auf dem Land einen Markt, dort haben Frauen Essenstände und verkaufen etwas Obst und Gemüse. Die Frauen sind täglich damit beschäftigt, Geld für die Familie aufzutreiben, für Wasser zu sorgen und an Holzkohle zu kommen, um eine Suppe zu kochen. Die größten Probleme heißen: Mangel- und Unterernährung, hohe Kinder- und Müttersterblichkeit, HIV und Tuberkulose. Mindestens ein Mitglied jeder Familie zieht in die Stadt, um Geld zu verdienen.

Angst vor Verteilungskämpfen

Die Armut war auch vor dem Erdbeben ständiger Begleiter der Menschen. Und der Wiederaufbau wird enorme soziale Konflikte erzeugen, vermutet Katja Holmberg. Während des Bebens hat es besonders die Häuser der unteren Mittelschicht und unteren Oberschicht getroffen. Die Menschen, die nie etwas hatten, die unterhalb des Existenzminimums lebten, haben nach wie vor ein Dach über dem Kopf. Sie lebten schon immer in Einraumhütten mit einem Palmendach darüber. »Es wird zu Konflikten kommen«, vermutet Katja Holmberg. Bei der Essensverteilung habe sich das bereits angedeutet, erzählt die Krankenschwester. Die, die nicht primär vom Erdbeben betroffen waren, hatten keine Hilfsgüter erhalten. Alte Menschen, Frauen und Kinder waren die benachteiligten Gruppen bei der Verteilung. Die Alten standen zehn Stunden in der Sonne, die jungen Männer hatten mehr Kraft, um etwas von den Hilfsgütern zu ergattern. Armutsbekämpfung durch mehr Bildung

Die Haitianer brauchen Hilfe zur Selbsthilfe, sagen die Helfer aus Deutschland. Doch wie dieses Ziel erreicht werden kann, ist unklar. Haiti ist ein korruptes Land, der Bildungsmangel ist eines der größten Probleme des Landes. Es gibt wenige staatliche Schulen und die Privatschulen kosten Geld, das die meisten Familien nicht haben. Der kostenlose Schulbesuch müsste Pflicht werden, sagen Helfer wie Katja Holmberg. »Sonst wird sich im Land wenig ändern.« Katja Holmberg nimmt an, dass es von staatlicher Seite für ein besseres Bildungssystem aber kein Interesse gibt. Mehr Bildung würde zu mehr Auswanderung führen - die gebildeten Leute, die in Kuba oder Mexiko studieren, kommen nicht zurück.

Durch das Erdbeben wurde das Land um Jahre zurückgeworfen. Darin sind sich alle Helfer einig. Die letzten fünf Jahre habe es wenigsten eine Stabilisierung durch die Anwesenheit der UN gegeben. 2004 hatte der UN-Sicherheitsrat die Mission MINUSTAH beschlossen. Soldaten, Polizisten und zivile Helfer sind seitdem im Land stationiert. »Durch MINUSTAH ist Haiti sicherer geworden«, sagt Rasmus Stern, doch hätte dies mit einer Strategie zur nachhaltigen Armutsbekämpfung einhergehen müssen.

Wie sieht die Zukunft für Haiti aus? Es sei viel Hilfe von außen nötig, sagen die Helfer. Wenn die Haitianer die Katastrophe als Chance verstehen, dann meinen sie nicht allein den zukünftigen Wiederaufbau der Häuser. Die Menschen streben nach einer Veränderung, die es ermöglicht, dem komplexen Geflecht aus Armut und Abhängigkeit von äußerer Hilfe zu entrinnen. Das wird nicht Jahre dauern, sondern Jahrzehnte.

Doch es bleiben auch Bilder der Hoffnung. An einem Sonntag hatte Sabine Wilke ein haitianisches Mädchen getroffen, mitten in einem Lager mit schlechtesten hygienischen Bedingungen, zwischen Pfützen in der beginnenden Regenzeit. Sie trug ein blütenweißes Kleid und weiße Klammern im Haar und war auf dem Weg in die Kirche. Und sie hatte ein Lebensziel: Sie wolle einmal Schneiderin werden, sagte sie.

* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2010


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