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Keine Sicherheit, nirgendwo

Haiti vor den Wahlen unter ausländischer Kontrolle: Die Furcht vor UN-Truppen geht um. Nicht nur im Elendsviertel "Cité Soleil" herrscht Gewalt

Von Amy Bracken (IPS), Port-au-Prince*

Am kommenden Dienstag soll in Haiti, der Inselrepublik mit ihren 8,4 Millionen Einwohnern, gewählt werden. Ziel ist es, nach dem mit ausländischer Unterstützung durchgeführten Sturz des legitimen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide vor zwei Jahren einen Nachfolger per Urnengang zu installieren. Auch steht die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses zur Abstimmung. Diese findet unter internationaler Oberhoheit statt – insgesamt über 6200 UN-Blauhelme und 1200 Zivilpolizisten der »Stabilisierungstruppen« (MINUSTAH) überwachen den Wahlgang. Allerdings gelang es ihnen bis dato ebensowenig wie der maßgeblich von den USA und Frankreich mitgetragenen Übergangsregierung, die Lage zu beruhigen. Gewalt gehört zum Alltag.

Die »Cité Soleil«, ein Elendsviertel der Hauptstadt Port-au-Prince, ist weiterhin besonders betroffen. Die mehr als 200000 Bewohner der »Sonnenstadt« leben in ständiger Furcht, ins Visier von bewaffneten Banden oder UN-Truppen zu geraten. Selbst in der Nacht sind sie vor Artilleriebeschuß und Maschinengewehrfeuer nicht sicher. Nach dem jüngsten nächtlichen Gefecht Mitte vergangener Woche mußten in einem Hospital, das belgische Ärzte der internationalen Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« (MSF) in Cité Soleil unterhalten, zehn Patienten mit Schußwunden im Rücken behandelt werden. Zudem war eine Frau von einer Kugel getroffen worden, die das Dach ihre Hütte durchschlagen hatte.

Allein in der ersten Januarhälfte 2006 wurden in das MSF-Krankenhaus 47 Zivilisten mit Schußverletzungen eingeliefert. Vier von ihnen starben. Im Dezember hatte das Krankenhaus 80 Verletzte behandelt, mehr als doppelt soviel wie einen Monat zuvor. Auch die Notfallstation des haitischen Roten Kreuzes in Cité Soleil versorgt täglich zahlreiche Verletzte oder transportiert sie in ein Krankenhaus in Port-au-Prince. Das in der Nähe der Innenstadt gelegene Krankenhaus, das Patienten aus Cité Soleil und aus der übrigen Hauptstadt versorgt, berichtete ebenfalls, daß in jüngster Zeit immer mehr Patienten mit Schußverletzungen eingeliefert wurden. Ihre Zahl stieg von 103 im November auf 122 im Dezember 2005. Es sei mit einer weiteren Zunahme zu rechnen, befürchtet Ali Besnaci von MSF Frankreich.

Selbst für erfahrene Helfer ist die Situation in Port-au-Prince wegen ihrer Unübersichtlichkeit äußerst ungewöhnlich. In Cité Soleil herrscht Krieg. Doch es ist unklar, wer hier aus welchen Gründen kämpft. Zum Beispiel beschuldigen Bewohner des Viertels bestimmte einflußreiche Unternehmer, sie unterstützten ein gewaltsames Vorgehen der UN-Truppen. Manche Geschäftsleute werfen den Blauhelmen vor, sie verzichteten absichtlich darauf, Gangster und Entführer zu kontrollieren. Auch häufen sich Klagen, die UN-Soldaten terrorisierten die Bevölkerung. »Die UN-Truppen sind bei uns gelandet, um die Bourgeoisie zu unterstützen. Mit dem Geld des Unternehmers André Apaid und des Präsidentschaftskandidaten Charles Baker wollen sie das Land so destabilisieren, daß es hier niemals Wahlen geben kann«, erklärt ein junger Mann und gibt damit eine weitverbreitete Meinung wieder.

In den wohlhabenden Vierteln von Port-au-Prince wird weniger geschossen als in den Elendsquartieren, doch viel sicherer ist es dort auch nicht. In diesem Winter wurden täglich bis zu 20 Personen gekidnappt. Die Geschäftswelt der Hauptstadt wirft den UN-Truppen vor, sie schützten die Bevölkerung zu wenig vor den Kidnappern. Vor kurzem rief Haitis Handelskammer zu einem Generalstreik auf. Apaid und Baker, zwei millionenschwere Unternehmer mit politischem Ehrgeiz, organisierten sogar vor dem MINUSTAH-Hauptquartier ein Sit-in. »Die UN-Mission macht Geld, während Haitianer sterben«, hieß es auf einem der Transparente der Demonstranten.

Die eigentlichen Hintergründe der Gewalt werden indes weitgehend ignoriert. »In Cité Soleil sind nicht die Banden das Problem, sondern das Elend der Menschen«, sagte Richard Roger, der als Sicherheitsbeamter die Registrierung der Wahlberechtigten in Cité Soleil überwacht und dort lebt. »Die Menschen hier haben keine Arbeit. Sie haben kein Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen oder eine Unterkunft zu bezahlen. Sie greifen auch zu illegalen Mitteln, um sich einen minimalen Lebensstandard zu verschaffen.«

* Aus: junge Welt, 1. Februar 2006


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