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Schlange stehen für ein paar Reiskörner

Haiti: Erst kam die Dürre, dann der Taifun - der Karibikinsel droht eine humanitäre Katastrophe

Claudette Coulanges/Hermann Abmayr *

In der Stadt Aquin erfinden die Leute gern neue kreolische Begriffe. Sie sprechen nicht von Hunger, sondern von Acide Batterie. "Unsere Mägen fühlen sich an, als seien sie von Batteriesäure verätzt", meint Marlène Victor, der man ansieht, dass sie einmal sehr hübsch gewesen sein muss. Mit einer Zange holt sie einen Maiskolben aus dem heißen Wassertopf und reicht ihn einem Käufer an der vor Hitze bebenden Straße. Kein Lüftchen hebt den Staub auf und lässt ihn irgendwo wieder fallen. Es ist totenstill um die Mittagszeit in der Küstenstadt Aquin.

"Für viele von uns ist das, was ich verkaufe, die einzige Mahlzeit am Tag. Ein Maiskolben oder gekochte Esskastanien." Mitte August, als von den Wirbelstürmen noch nichts zu sehen war, hätten sie in Aquin über die extreme Trockenheit geklagt, über vertrocknete Maisschläge und verbrannte Bohnenfelder. Dann sei über Nacht alles anders geworden, mit dem Orkan kam das Wasser und ließ halb Aquin in Morast und Schlamm versinken.

Was die Dürre nicht fraß

Marlène lebt mit ihrem Mann Frankel, mit sieben eigenen und den fünf Kindern ihrer verstorbenen Schwester in einer Wellblechhütte am Rande der Stadt, eine Stunde von der Provinzkapitale Les Cayes entfernt. Die Familie baute ein wenig Mais und Bohnen an, doch um mehr zu ernten, als für den eigenen Tisch gebraucht wurde, fehlte es an Bewässerung. Marlène hielt auch Hühner, ein paar Ziegen und Schweine. Aus dem Verkauf des Fleischs ließ sich das jährliche Schulgeld für die Kinder bestreiten. Die Familie gehörte bei weitem nicht zu den Ärmsten in Aquin.

Schon Monate vor dem Hurrikan seien die Preise für Lebensmittel um das Doppelte, oft sogar das Dreifache gestiegen, doch hätte sich ihre Familie damals noch drei bis vier mal pro Woche gekochten Reis leisten können, erzählt Marlène. Aber die fürchterlichen Stürme! Die seien über sie gekommen wie das Jüngste Gericht, seither werde das Leben von Tag zu Tag trostloser.

Zwischen Ende August und Anfang September zogen über Haiti vier schwere Unwetter hinweg. Die Wirbelstürme Ike, Fay, Gustav und Hanna verstümmelten in manchen Gegenden die Küstenregion bis zur Unkenntlichkeit. Was auf Reisfeldern und Maisschlägen an kümmerlicher Vegetation nicht der Dürre zum Opfer fiel, ertränkte der Taifun. Er zerstörte Trinkwasserbrunnen, tötete das Vieh, vernichtete Saatgut, vertrieb die Menschen.

Bis heute lässt sich Aquin kaum mit Hilfsgütern versorgen, weil die Straßen in der Umgebung mancherorts nicht mehr passierbar sind. Vor einem Jahr noch galt die Provinz Les Cayes für haitianische Verhältnisse als wohlhabend und ruhig, bis im März die Hungerrevolten begannen. Junge Männer begehrten auf und wehrten sich gegen wuchernde Lebensmittelpreise, stürmten Märkte, Geschäfte oder Lebensmittellager und scheuten vor Straßenschlachten mit der Polizei nicht zurück.

"Dieser Aufruhr hat uns allen geschadet", ist Marlène Victor überzeugt. Künftig werde es dazu jedoch nicht mehr kommen, alle seien viel zu geschwächt und zu müde, um noch einmal auf die Barrikaden zu steigen. Ein Ende des Jammertals - denn als solches empfinde sie ihr Leben - werde es nie geben.

Wo kein Baum blieb

Begonnen hatte der Niedergang der haitianischen Agrarwirtschaft in den achtziger Jahren, als auf Drängen der Welthandelsorganisation WTO und der US-Regierung die Importsteuern bei Nahrungsmitteln drastisch gesenkt wurden. Es kam zur massenhaften Einfuhr von billigem, weil subventio­niertem Reis, Geflügel und Schweinefleisch aus Nordamerika. Die lokalen Produzenten blieben auf ihrer Ware sitzen, während die aus den USA importierte Reissorte Lucky die Essgewohnheiten revolutionierte. Bis dahin kochten sich arme Haitianer nur an Sonn- und Feiertagen eine Schale Reis und lebten ansonsten von Mais, Hirse, Bohnen oder Essbananen. Jetzt aber stellten sie sich auf das aus Miami eingeschiffte Billigsortiment um. Eine tödliche Falle, wenn dieser Warenkorb plötzlich zu teuer und unerreichbar wird, wie das seit Anfang des Jahres der Fall ist.

"Die Nahrungsmittelproduktion Haitis ist um über ein Drittel zurückgegangen", klagt Franck Saint Jean, Experte der Nichtregierungsorganisation Plateforme Haïtienne de Plaidoyer pour un Développement Alternatif (PAPDA) in Port-au-Prince. Es gelte, den eigenen Markt ein für allemal vor billigen US-Waren zu schützen und der Bevölkerung zu zeigen, dass man von der eigenen Landwirtschaft leben könne.

Saint Jean - von Beruf Agronom - erinnert daran: "Als vor 300 Jahren auf Haiti die erste französische Kolonie Santo Domingo entstand, war das Land hier grün. Heute findet man in manchen Gebieten keinen einzigen Baum mehr." Die Erklärung für dieses Phänomen: Seit Generationen kochen die meisten Haitianer mit Holzkohle. Die herzustellen, ist eine der wenigen Möglichkeiten, etwas zu verdienen. Würde das Wasser nicht abgekocht, wäre die Kindersterblichkeit noch höher, als sie ohnehin schon ist. Von zehn Kindern werden auf Haiti zwei nicht älter als fünf Jahre. Der Kahlschlag und die dadurch ausgelöste Bodenerosion haben das Land nicht nur karg, sondern auch wehrlos gemacht. Jeder sintflutartige Regen schwemmt mehr von der einst fruchtbaren Erde weg.

Marlène Victor hat in ihrem ganzen Leben noch nie staatliche Hilfe in Anspruch genommen. "Ich wollte nicht Schlange stehen für ein paar Reiskörner." Jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, falls in Aquin je Hilfslieferungen ankommen. Mittlerweile hat sie ein paar Maiskolben und Esskastanien verkauft. Der Rest bleibt für ihre Kinder, die darauf warten.

* Aus Wochenzeitung "Freitag", Nr. 43, 23. Oktober 2008


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