Haitis Freiheitswille
Erinnerung an den entführten und verschwundenen Menschenrechtsaktivisten Lovinsky Pierre-Antoine
Von Mumia Abu-Jamal *
Für die haitianische Freiheitsbewegung und ihre weltweiten Unterstützer
ist dieser August der Monat der Erinnerung an die Entführung und das
Verschwinden von Lovinsky Pierre-Antoine. Der 54jährige
Menschenrechtsaktivist ist Mitbegründer und Koordinator der Stiftung
»Fondasyon Trant Septanm« (Stiftung 30. September). Die Stiftung ist
eine Basisorganisation, benannt nach dem Militärputsch vom 30. September
1991, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide
des Amtes enthoben worden war. Während der Militärherrschaft von 1991
bis 1994 wurden mindestens 3000 Menschen getötet. Seit Gründung der
Stiftung im Jahr 2006 demonstrieren ihre Mitglieder jede Woche im
Zentrum von Port-au-Prince und weiteren haitianischen Städten und
verlangen das Ende der Straffreiheit für die Rechtsverstöße der
Vergangenheit sowie Wiedergutmachung für die Opfer des Militärregimes.
Lovinsky Pierre-Antoine ist Psychologe und leistete seit Jahren
Basisarbeit in seiner Gemeinde, vor allem mit Kindern. Während der
letzten Präsidentschaft von Jean-Bertrand Aristide (2000--2004) war er
Leiter der staatlichen Behörde für Migration. Die Zeit der
Übergangsregierung verbrachte er im Exil. Im Februar 2006 kehrte er nach
Haiti zurück.
Lovinsky Pierre-Antoine wurde das letzte Mal am 12. August 2007 gesehen,
als er sich von einer Delegation von Menschenrechtsaktivisten aus den
USA und aus Kanada verabschiedete, die Haiti besucht hatten. In den
Tagen vor seiner Entführung hatte Pierre-Antoine angekündigt, er wolle
bei den ursprünglich für Dezember 2007 anberaumten Wahlen als Mitglied
der Fanmi-Lavalas-Partei für das Amt eines Senators kandidieren.
Am Tag seines Verschwindens fand man seinen Wagen in der Nähe des
Stadtteils Delmas 18 von Port-au-Prince. Es wird vermutet, daß
Pierre-Antoine von Militärangehörigen aus der Zeit des Militärregimes
verschleppt wurde, die eine Entführung nur vorgetäuscht haben. Seine
vermeintlichen Entführer nahmen am 14. August 2007 Kontakt zu seiner
Familie auf und verlangten ein Lösegeld in Höhe von 300000 US-Dollar.
Doch danach haben sie sich nie wieder bei der Familie gemeldet.
Rund um den Globus treten Menschenrechtsorganisationen für die
Freilassung von Pierre-Antoine ein. Sie haben sich an Haitis Präsidenten
René Préval ebenso gewandt wie an die brasilianische Regierung, die das
größte Kontingent der in Haiti stationierten UN-Truppen stellt. Außerdem
fordern die Menschenrechtler Klarheit über Pierre-Antoines Verbleib von
den Regierungen der USA, Kanadas und Frankreichs, die sie für den
letzten Putsch gegen Haitis Demokratie verantwortlich machen.
Haiti blickt auf eine bewegte und stolze Vergangenheit zurück. Nach der
erfolgreichen Revolution von 1804 war die Insel die erste freie Republik
mit einer schwarzen Bevölkerung in der westlichen Hemisphäre. Haiti
befreite sich in dieser Revolution vom französischen Kolonialismus und
schaffte die Sklaverei Jahrzehnte vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg ab,
der auch in den USA ein Ende der Knechtschaft für die aus Afrika
verschleppten Sklaven bringen sollte. Haiti wurde zum leuchtenden
Beispiel für Freiheit und Unabhängigkeit im gesamten karibischen Raum.
Als sich Lateinamerika gegen seine spanischen Kolonialherren erhob, war
es die junge Republik Haiti, die den von dem Venezolaner Simon Bolivar,
genannt El Libertador, geführten Freiheitskampf mit Waffen, Truppen und
Rückzugsgebieten unterstützte.
Wegen seines mutigen Eintretens für die Befreiung der schwarzen und
eingeborenen Völker entfesselten die Regierungen der USA und
europäischer Staaten einen unheiligen Krieg gegen die kleine
Inselrepublik. Frankreich besaß sogar die Unverschämtheit, für die durch
das Ende des Kolonialismus »erlittenen Verluste« Reparationszahlungen zu
fordern. Die USA intervenierten mehrfach militärisch, massakrierten die
Bevölkerung und setzten Marionettenregierungen ein, die ihnen halfen,
das Land über Generationen auszuplündern. Weil Haitis populärer
Präsident Bertrand Aristide es wagte, sich dieser reichen Vasallenelite
entgegenzustellen, und weil er versuchte, die Not der vorwiegend von
Landarbeit lebenden Bevölkerung zu lindern, zwangen ihn US-Marinetruppen
ins Exil.
Der 12. August steht dafür, daß weder Haitis mutiger Freiheitswille noch
Lovinsky Pierre-Antoine in Vergessenheit geraten.
Übersetzung: Jürgen Heiser
* Aus: junge Welt, 9. August 2008
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