Im Armenhaus auf Stimmenfang
19 Präsidentschaftskandidaten kämpfen in Haiti um die Gunst der Wähler
Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *
Mitten im Chaos sollen die Menschen auf Haiti am Sonntag (28. Nov.) einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen. Die inzwischen von vielen Haitianern angefeindeten UN-Blauhelme wollen für Sicherheit sorgen.
In Haiti wird derzeit geflittert und werden Facebook-Freundschaften aktiviert. Der Musiker »Sweet Michy« nutzt jede freie Minute, um sich an die Wähler ranzutwittern. Auf den Wahlzetteln, die die Abstimmungsberechtigten am Sonntag in ihrem Wahllokal ausgehändigt bekommen, wird er allerdings mit seinem bürgerlichen Namen auftauchen: Michel Martelly. Chancen werden dem selbst ernannten »Präsident des Kompa« (haitianischer Musikstil, d. Red.) jedoch kaum eingeräumt. Aber auch andere Bewerber um das höchste Staatsamt kämpfen im Internet um jede Stimme, als wäre das unter Erdbeben und Cholera leidende Armenhaus Haiti bereits eine Cybernation.
Zwar gab es in den letzten zwei Wochen vor allem aus der Regierungspartei unter René Préval Stimmen, die aufgrund der prekären Situation des Landes für eine Verschiebung der Abstimmung plädierten, aber die ausländischen Berater und der Conseil Électoral Provisoire (CEP), der Vorläufige Wahlrat für die Präsidentschafts-, Parlaments- und Senatswahlen, haben nicht darauf reagiert.
Die Vorbereitungen sind auch zur Zufriedenheit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) abgeschlossen worden, die Registrierung der Stimmberechtigten sei erfolgreich gewesen. Die OAS, mit der Überwachung des Wahlgangs beauftragt, ist nach einer Pressemitteilung auf alle »Fälle von Betrug und Manipulation« vorbereitet. Und ein Mitglied der US-amerikanischen Botschaft wird in der US-Presse mit den Worten zitiert: »Alles läuft nach Plan.« Wie viel der vom CEP insgesamt 4,7 Millionen registrierten Personen zur Wahl gehen werden, ist allerdings ungewiss, denn Haitis Bürger sind politikmüde. 1,3 Millionen Bewohner der Hauptstadt Port-au-Prince leben auch zehn Monate nach dem schweren Erdbeben noch immer provisorisch in weit über 1000 Zeltlagern, in denen es gerade mal Schutz vor leichtem Regen und Sonne gibt. 80 Prozent der Bevölkerung leben am Rande oder unter der Armutsgrenze und müssen täglich mit durchschnittlich gerade mal 80 Eurocent überleben. Die Regierung hat auf die Katastrophensituation der letzten zehn Monate kaum reagiert und die Menschen der ausländischen Hilfe überlassen. Möglich ist, dass sich die Registrierten zwar ihren Ausweis mit der Wahlberechtigung abgeholt haben, aber am Sonntag doch nicht an die Urnen eilen, um danach ihren Finger in die nicht abwaschbare Tinte zu stecken, was Doppelstimmabgaben verhindern soll.
Glaubte der umworbene Wähler den öffentlichen Erklärungen der Kandidaten um das Präsidentschaftsamt in Rundfunk, Fernsehen und den beiden Tageszeitungen des Landes, dann hätte das mit über neun Millionen Einwohner überbevölkerte 27 000 Quadratkilometer große Land am kommenden Montag 19 mit absoluter Mehrheit gekürte Präsidenten. Aber nur fünf von ihnen werden Chancen auf das höchste Staatsamt eingeräumt.
Nach Umfragen, die zwar durchaus seriös wirken, aber oft im Auftrag von Kandidaten erstellt wurden, liegt Mirlande Manigat an erster Stelle in der Wählergunst. Die erforderliche absolute Mehrheit wird ihr allerdings nicht zugetraut. Über einen Sieg der rechts-konservativen Gattin des ehemaligen haitianischen Präsidenten Leslie François Manigat würden sich jedenfalls viele europäische Botschafter freuen. Die 70-Jährige gilt ebenso wie ihr 80 Jahre alter Mann den Interessen und Planungen »entwickelter Staaten« zugänglich. Manigats Mann war schon einmal 2005 gegen Préval angetreten, jedoch zu kurz gesprungen.
Mit 22 Prozent nur acht Prozentpunkte hinter Manigat ist in den »Forum«-Umfragen Jude Celestin platziert. Er tritt für die Partei »Inite« (kreolisch für »Einheit«), an, die Préval ins Leben gerufen hat, nachdem sich sein Wahlverein Espwa (Hoffnung) durch Korruption und Machtmissbrauch selbst diskreditiert hatte. Sollte Celestine das Rennen machen, dann hat Préval sein Feld gut bestellt, denn der 48-Jährige gilt nicht nur als getreuer Gefolgsmann des derzeitigen Staatschefs, sondern er ist auch sein Schwiegersohn. Der mit dem Slogan »Zusammen können wir« in Obama-Manier antretende Celestine würde damit nicht nur die politische Erbschaft seines Schwiegervaters antreten, sondern ihn dann auch im Küchenkabinett sitzen haben.
Neben Mirlande Manigat und dem Kompa-Star dürften nur noch der ehemalige Ministerpräsident unter Préval, Jacques E. Alexis, und der einzige Weiße unter den Kandidaten, der Unternehmer Charles H. Baker, auf den vorderen Rängen bei der Auszählung ein Wort mitzureden haben.
Sollten Haitis Wählerinnen und Wähler am Sonntag ihren Stimmzettel in die Urnen stecken, entscheiden sie auch über die 110 Parlamentssitze, um die sich 950 Kandidaten bewerben, und einen Teil der Senatsmandate. Vermutlich steht danach im Januar, nur wenige Tage nach dem Jahrestag der Erdbebenkatastrophe, ein zweiter Wahlgang an.
Politische Beobachter fürchten allerdings, dass diese Zeit von interessierten Kreisen genutzt werden könnte, um noch so viel Unruhe zu produzieren, dass die internationale Gemeinschaft doch lieber weiter Préval im Amt lässt. Genau das fordert der gegenwärtige Präsident, der nach dem Gesetz nicht mehr kandidieren darf, schon seit einem Jahr.
* Aus: Neues Deutschland, 27. November 2010
Im Schatten der Cholera
Trotz Protesten und Toten wird am Sonntag in Haiti ein neuer Präsident gewählt
Von Johannes Schulten **
Haitis Großstädte erinnern dieser Tage an einen Endzeitfilm: Cholerakranke schleppen sich zur nächsten Versorgungsstation; wer es nicht schafft, verreckt am Straßenrand. Während Anwohner von Port-au-Prince hilflos versuchen, sich mit einem Stück Stoff vorm Gesicht vor der tödlichen Krankheit zu schützen, füllen sich in den Ausläufern der Hauptstadt die provisorisch ausgehobenen Massengräber.
Angesichts dieser Bilder ist es schwer vorstellbar, daß die 4,7 Millionen Haitianer am Sonntag (28. Nov.) einen Nachfolger für Präsident René Préval bestimmen werden.
Nicht nur die Zehntausenden Demonstranten, die seit dem vergangenen Wochenende die Straßen der großen Städte füllen, erscheint die Bekämpfung der Cholera aktuell dringender als die Wahl einer neuen politischen Führung. Denn die verfügt ohnehin über keine Handlungsfähigkeit. Seit dem US-gestützten Putsch gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide im Jahr 2004 steht das Land praktisch unter Verwaltung der UN-Mission MINUSTAH. Die Schäden des verheerenden Erdbebens Anfang des Jahres, das eine Viertelmillion Menschen unter sich begrub und 1,5 Millionen obdachlos machte, sind noch nicht ansatzweise beseitigt.
Die Cholera ist da nur der berühmte letzte Tropfen. Keinen Monat, nachdem Ende Oktober der erste Krankheitsfall bekannt wurde, ist die Zahl der Toten auf fast 1600 gestiegen.
570000 Menschen sind in medizinischer Behandlung. Wie viele sich mit dem Virus infiziert haben, läßt sich nur erahnen. Die UN korrigieren ihre Prognosen fast täglich. Zuletzt gingen die Experten von 230000 Erkrankten innerhalb der nächsten drei Monate aus. Das wären fast fünf Prozent der Bevölkerung.
Inzwischen haben auch die Proteste gegen UN-Truppen und deren miserables Krisenmanagement die Hauptstadt erreicht. Es gibt Berichte über brennende Reifen und Barrikaden. UN-Soldaten werden angegriffen, und feuern zurück.
Die Kandidaten sollen sich von den gewaltbereiten Anhängern distanzieren, forderte derweil der Chef der provisorischen Wahlkommission Haitis am Mittwoch. Das Signal ist klar. Trotz Demonstrationen und Cholera – die Wahlen am Sonntag werden durchgeführt. Und der Leiter der UN-Mission Minustah, Edmond Mulet, gibt zu bedenken: »Für den Wiederaufbau brauchen wir dringend eine demokratisch legitimierte Führung.« Die Tausenden, die dieser Tage auf die Straße gehen, machen nicht den Eindruck, als hegten sie die Hoffnung, die Wahlen könnten irgend etwas an ihrer Situation ändern.
** Aus: junge Welt, 27. November 2010 (Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fotoreportage; die Fotos selbst können wir aus technischen Gründen nicht dokumentieren).
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