Ringen um Würde und Hoffnung
Ein Jahr nach dem Erdbeben herrscht in Haiti noch immer Chaos. Fehlende Hilfen, der Streit um die Wahlen und die Cholera verschlimmern die Lage
Von Elli Rötzer, Port-au-Prince *
Wenn in Haiti um fünf Uhr die Sonne aufgeht, beginnt Vilet Lesaint, 32, um sein Leben zu kämpfen. Jeden Tag aufs neue, auch an diesem Mittwoch Anfang Januar. Er zieht eine rote Weste mit der Aufschrift eines Telefonanbieters an und schultert einen roten Rucksack, damit man ihn von weitem erkennen kann. Er zieht einen Turnschuh an, klemmt sich große Krücken unter die Achseln und beginnt, die zwei Kilometer von seiner Hütte zur Hauptstraße von Delmas, einem Viertel in Port-Au-Prince, zu laufen.
Am Nachmittag des 12.Januar 2010, als in Haiti die Erde bebte, verlor Vilet Lesaint seine Familie, sein Haus, sein Bein und damit auch seine Arbeit als Busfahrer. Jetzt verkauft er Prepaid-Karten für Mobiltelefone, für jede bekommt er 20 Cent. »Ich wollte nicht betteln, deshalb verkaufe ich die Karten«, sagt Vilet Lesaint. »Mir war von Anfang an wichtig, meine Würde zu bewahren.« Doch nicht jeder Tag ist ein guter Verkaufstag, nicht jeden Tag überlebt er gleich gut. Vilet Lesaint ist kein aufdringlicher Mensch, oft vergehen Stunden, ohne daß ihm jemand eine Karte abkauft. Wenn die ersten Kunden da waren, holt er sich gleich etwas zu essen. Auch die übrigen Tageseinnahmen gibt er fürs Essen aus – Haiti ist ein teures Land. Eine Mahlzeit kostet selbst in den kleinen Garküchen auf der Straße mindestens drei Euro.
Übrig bleibt ihm deshalb meist nichts, wenn er am Abend in seine Hütte zurückkehrt. Immer arbeitet er, bis es um 18 Uhr dunkel ist, steht an einer Straßenecke und wartet auf Kunden. Sobald die Sonne untergegangen ist, legt sich Vilet auf den Holzboden, auf den er eine Decke ausgebreitet hat, zum Schlafen. Es ist anstrengend, den ganzen Tag mit Krücken zu laufen. Und was sollte er auch tun? Strom gibt es nicht im Lager, mit seinen Nachbarn hat er kaum Kontakt, sie spielen am liebsten Fußball und tanzen.
Das Beben
Am 12.Januar vor einem Jahr ging Vilet Lesaint eine Straße der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince entlang, er war gerade auf dem Heimweg von seiner Arbeit. Da hörte er plötzlich ein tiefes Grollen, gleich danach verlor er das Bewußtsein. Als er aufwachte, war er unter einem Trümmerhaufen begraben. Passanten befreiten ihn, brachten ihn ins Krankenhaus. Dort sagte ihm der Doktor, daß sein rechtes Bein nicht mehr zu retten sei. Er versuchte, seine Eltern und Geschwister anzurufen, doch die Telefonleitungen waren tot. Als er schließlich mit seinem Vater sprechen konnte, sagte der ihm, daß seine Mutter und Geschwister tot seien und daß das Beben auch ihr Haus zerstört hatte. Damals begann sein neues Leben, nichts mehr war so wie davor. Als Vilet aus dem Krankenhaus kam, suchte er sich einen Platz in einem Flüchtlingslager in der Nähe seines früheren Hauses.
Mehr als eine Million Menschen leben in Haiti auch ein Jahr nach dem Beben der Stärke sieben noch in den Notunterkünften. In der Hauptstadt Port-au-Prince gibt es keinen Kreisverkehr, keine Grünfläche, keinen Platz, kein freies Grundstück, auf denen keine Zelte stehen. Daneben liegen Trümmer und Schutt. Fast sieht es so aus, als wäre das Erdbeben gerade erst passiert.
Tatsächlich ist seit der Naturkatastrophe wenig geschehen. Laut einem Bericht der Nichtregierungsorganisation Oxfam sind bisher nur fünf Prozent der Gebäude, die das Erdbeben zerstörte, abgetragen. Zudem sind die Hilfsmittel in Milliardenhöhe, die dem Land zugesagt wurden, nur zu einem Teil bei den Bedürftigen angekommen. NGO wie Oxfam haben direkt vor Ort geholfen. Doch viele Staaten wollten ihre Hilfsgelder erst verteilen, wenn das Land eine neue Regierung hat. Zwar fanden im November Wahlen statt, aber ein Kabinett gibt es immer noch nicht. Die Abstimmung war von Betrugsvorwürfen überschattet: Stimmzettel wurden gefälscht und unterschlagen. Namen von Bürgern, die sich ordnungsgemäß in die Wahllisten eingetragen hatten, waren nirgends zu finden. Trotzdem proklamierte die provisorische Wahlkommission mit der früheren »First Lady« Mirlande Manigat eine Gewinnerin und mit dem von der Regierung unterstützten Jude Célestin einen Zweitplazierten, die sich der Stichwahl stellen sollten. Eigentlich sollte diese bereits am vergangenen Sonntag stattfinden. Doch statt dessen wurden die Abstimmungsergebnisse unter Aufsicht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nachgezählt. In einem Bericht forderte diese, den von der Wahlkommission mit geringem Abstand hinter Célestin als dritten der ersten Runde verkündeten Michel Martelly für die Stichwahl zuzulassen, weil dieser doch knapp vor dem Regierungsfavoriten gelandet sei. Die Wahlkommission lehnte das am vergangenen Dienstag jedoch ab und will an den ursprünglich proklamierten Kontrahenten festhalten. Ein Datum für die Stichwahl gibt es jedoch noch immer nicht. Proteste werden nun zwar erwartet, doch diese werden nach Ansicht einer Mitarbeiterin von Oxfam nicht lange anhalten: »Die Haitianer haben keine Energie für die Politik. Hier geht es um viel wichtigere Probleme: Wie werde ich morgen überleben?« Damit weitere rund zehn Milliarden Dollar Hilfsgelder an die Bevölkerung verteilt werden, muß es jedoch eine neue Regierung geben, so schnell wie möglich.
Keine Regierung
Bis die Mächtigen im Land sich auf eine Staatsführung geeinigt haben, leiden vor allem diejenigen, die das Beben sowieso schon am meisten getroffen hat. Viele Haitianer haben bisher keinerlei Hilfe erhalten. Wie Vilet Lesaint war auch Inmaculate Pierre, 42, nach der Katastrophe immer auf sich allein gestellt. Seit zwölf Monaten lebt sie mit ihrem Sohn in einem Lager im Zentrum von Port-au-Prince. Die ersten drei Monate schlief sie mit dem Kind in einem Verschlag, den sie aus Kartons gebaut hatten. Erst Mitte April hatte sie die etwa 40 Euro gespart, die eine feste Plane kostet. »Ich lebe seit dem Tag nach dem Beben in diesem Lager, seither ist kein einziges Mal jemand gekommen, um uns zu helfen.« Vor dem 12.Januar 2010 hatte sie ein gutes Leben. Sie besaß ein kleines Bekleidungsgeschäft, ihr Mann arbeitete in den USA, mit ihren drei Kindern wohnte Inmaculate Pierre in einem kleinen Haus in der haitianischen Hauptstadt. »Als das Beben kam, war mein Mann gerade zu Besuch, er machte einen Mittagsschlaf zu Hause. Ich rannte sofort von meinem Geschäft zu uns«, erzählt sie. Dann hält sie kurz inne. »Alles war zerstört. Meinen Mann habe ich nie gefunden, er war irgendwo unter den Trümmern.« Sie holt eine Fotografie unter ihrem Bett– nicht mehr als Kartons, auf denen mehrere Militärdecken gestapelt sind – hervor. Auf dem Bild ist sie viel kräftiger als jetzt, hat langes volles Haar. Jetzt sind es nur noch ein paar Büschel. »Ich habe mich sehr verändert«, sagt sie. »Schuld ist vor allem die Ungewißheit darüber, wie es morgen weitergehen soll.« Früher ging sie manchmal abends in die Kirche. »Aber so, wie ich jetzt aussehe, traue ich mich nicht mehr, die Messe zu besuchen«, sagt sie und blickt zu Boden. Bis vor kurzem hat sie sich noch Kunsthaar eingeflochten, um sich für den Gottesdienst herzurichten, doch das geht jetzt nicht mehr, zu viele Haare sind ihr ausgefallen.
Auch für sie beginnt der Überlebenskampf jeden Tag aufs neue. Sie hat keine Arbeit, muß aber genügend Geld auftreiben, um ein paar Lebensmittel kaufen zu können. Mittags kocht sie für sich und ihren Sohn, und wenn sie genug hat, auch für ein paar Nachbarn. Dafür dürfen die beiden dann bei ihnen mitessen, wenn Inmaculate nicht genug Geld zusammenbekommen hat.
Am Nachmittag holt sie mit einem Eimer Wasser von einem Brunnen, den das Rote Kreuz ein paar hundert Meter von ihrem Haus aufgestellt hat. Damit wäscht sie sich und ihr Kind, dann scheuert sie den Boden vor ihrem Zelt. »Mir ist wichtig, daß alles sauber ist«, sagt sie. Doch viel kann sie nicht ausrichten, ihr Bereich ist gerade mal zwei Quadratmeter groß, um sie herum leben weitere Familien, nachts schlafen meistens noch fünf Männer und Frauen vor ihrer Hütte, die kein eigenes Zelt haben. Insgesamt leben in diesem Camp, mitten im Stadtzentrum, rund 3000 Menschen. Toiletten gibt es nur am Eingang, nicht jeder benutzt sie.
Die schlechten Hygieneverhältnisse in den Lagern haben auch die Ausbreitung der Cholera begünstigt. Die Epidemie war im Oktober in Haiti ausgebrochen, das erste Mal seit Jahrzehnten. Dabei handelt es sich um einen Erregerstamm aus dem südasiatischen Raum. Nach den ersten Fällen machten die Haitianer deshalb gerade eingetroffene UN-Soldaten aus Nepal für den Ausbruch verantwortlich. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen ein Todesopfer zu beklagen war. Bisher sind fast 4000 Menschen an der Cholera gestorben, weitere 160000 haben sich infiziert. Im ganzen Land und quer durch alle Schichten sind Menschen betroffen. In den Lagern ist es besonders schlimm.
Rochefort Saint Louis, 30, kennt die Situation gut, er kümmert sich seit Mitte November, seit es die ersten Choleratoten gab, um die Leichen. Außerdem wohnt er selbst in einer Zeltstadt. »In den Lagern ist es deshalb besonders schlimm, weil die Menschen so nah beieinander wohnen.« Saint Louis ist für die Stadtteile im Westen von Port-au-Prince verantwortlich, bisher hat er dort mit seinen drei Kollegen mehr als 700 Verstorbene abtransportiert. Sein Arbeitstag beginnt um sechs Uhr. Von da an werden alle Anrufer, die einen Choleratoten in seinem Gebiet melden, von einer zentralen Telefonstelle im Gesundheitsministerium auf sein Handy weitergeleitet. Bevor Rochefort Saint Louis mit seinem Team die Leichen abholt, fährt er in eine Fabrikhalle im Norden der Stadt, wo er Desinfektionsmittel lädt. Dort stößt auch der Leichenwagen dazu, ein bunt angemalter Laster.
Die Cholera
Es ist ein Dienstagmorgen Anfang Januar. Gerade hat das Telefon von Rochefort Saint Louis geklingelt, eine Frau hat ein weiteres Opfer der Cholera in einem Camp im Zentrum der Hauptstadt gemeldet. Als Saint Louis mit seiner Truppe im Lager ankommt, ziehen die Männer sich vor dem weißen Minibus gelbe Schutzanzüge an, eine Brille, Mundschutz und Handschuhe. Die Kanister mit dem Desinfektionsmittel schnallen sie sich auf den Rücken. Diese sind über einen schmalen Schlauch mit einem Sprühmechanismus verbunden, den Saint Louis und die anderen in der Hand halten. So ausgerüstet machen sie sich auf die Suche nach dem Verstorbenen. Es ist nicht schwer, ihn zu finden. Seine Frau wehklagt in dem Zelt, Nachbarn reden davor aufgeregt miteinander. Die drei gehen sofort hinein. Es ist dunkel, fast leer. Es riecht nach Exkrementen. Auf einer Decke, die auf dem Boden ausgebreitet ist, liegt der Mann. Er ist höchstens 40 Jahre alt geworden.
Rochefort Saint Louis betätigt den Sprühknopf, reinigt zunächst das Gesicht. Dann steckt er mit Chlor getränkte Wattebällchen in Nase, Ohren und Mund und umwickelt das ganze Gesicht mit einem weißen Verband. Danach zieht er den Mann aus, die Kleider wirft er zusammen mit der Decke in einen großen Müllsack, desinfiziert den übrigen Körper, anschließend die Hütte. Als sein Kollege den Mann nach draußen trägt, schreit die Frau lauter. »Wohin bringt ihr ihn?« will sie wissen. Die Männer antworten nicht, packen den Toten in einen weißen Sack. Als die drei den Leichnam zu ihrem Lastwagen bringen wollen, geht die Frau auf die Männer los, will verhindern, daß sie ihn mitnehmen. Rochefort Saint Louis geht weiter seiner Arbeit nach. Die Frau läßt sich schließlich erschöpft vor dem Zelt nieder.
»Wir bringen die Leichen in ein Massengrab außerhalb der Stadt, schließlich müssen alle Choleratoten desinfiziert werden«, erklärt er später. »Den Familien ist das nur schwer zu vermitteln, sie wollen ihre Angehörigen schließlich besuchen können.« Rochefort Saint Louis mag seine Arbeit, auch wenn er immer wieder solche Schicksale erlebt. »Ich mag sie, weil ich endlich etwas Sinnvolles tun und in meinem Land aktiv etwas verbessern kann.«
Hunderte Tote
Wenn er am Abend gegen 18 Uhr zurück in seine Hütte in einem Lager ein paar Kilometer weiter westlich, im Stadtteil Petion-Ville, kommt, macht Saint Louis zuerst einen Rundgang durch die Zeltstadt. Er fragt, ob es neue Cholerafälle gab, wenn ja, kümmert er sich um die Desinfizierung. Später setzt er sich in sein Zelt und beginnt im Licht seiner Handy-Taschenlampe alle Toten des Tages in ein Buch einzutragen. An diesem Mittwoch hat er sechs Menschen beerdigt, die an Cholera gestorben sind, insgesamt sind es jetzt schon 704. Er notiert auch die genaue Adresse der Toten, am nächsten Morgen ruft er im Gesundheitsministerium an und bittet, in der Gegend eine Aufklärungskampagne gegen Cholera zu starten. »Ich habe endlich das Gefühl, etwas bewegen zu können«, sagt er.
In der Hauptstadt Port-au-Prince ist die Zahl der Choleratoten im Januar gesunken, pro Tag sterben nur noch höchstens zehn Menschen, im Dezember waren es noch täglich rund 20. Doch gebannt ist die Gefahr nicht. »So lange es in Haiti kein Abwassersystem gibt, wird es Cholera geben«, sagt Ivan Gayton, Notfallmanager von »Ärzte ohne Grenzen« in Haiti. Die Helfer betreiben wie viele Nichtregierungsorganisationen mehrere Cholerakrankenhäuser in der Stadt. Um die weitere Ausbreitung der Epidemie zu verhindern, setzt die Ärztevereinigung vor allem auf Aufklärung. »Damit die Krankheit aber ausgerottet wird, muß endlich eine richtige Regierung her, die durchgreift und Hygienestandards setzt«, fordert Ivan Gayton. Bisher gibt es nur Insellösungen. Die Lager, die die NGO verwalten, funktionieren gut. Einige Menschen erhalten Hilfe. Die Arbeit von engagierten Haitianern wie Rochefort Saint Louis ist wichtig. Doch insgesamt herrscht in Haiti noch immer Chaos.
Vilet Lesaint zum Beispiel hat auch nach mehr als einem Jahr keine Beinprothese. Gleich nach der Amputation fragte er die Ärzte danach, doch er wurde immer wieder vertröstet. Sie ist seine Hoffnung im täglichen Überlebenskampf. »Sobald ich die Prothese bekomme, will ich wieder Bus fahren«, sagt er. Noch hat er nicht einmal einen Termin, bei dem seine Maße genommen werden sollen. Als die Dämmerung hereinbricht, macht er sich wie an allen anderen Tagen auch an diesem Mittwoch schnell auf den Heimweg. In seinem Lager gibt es keinen Strom, er muß mehrere Abwasserkanäle überqueren. Wenn er nichts sieht, fühlt er sich mit den Krücken unsicher. In seiner Hütte angekommen, stellt er sie in eine Ecke, läßt sich auf den Boden nieder. Eine Maus verschwindet durch ein Loch in der Plane. In wenigen Minuten ist es draußen stockdunkel, in seiner Behausung sieht man schon jetzt nichts mehr. »Manchmal«, sagt er, »ist es schwer, Würde und Hoffnung zu bewahren.«
* Aus: junge Welt, 22. Januar 2011
Zurück zur Haiti-Seite
Zurück zur Homepage