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Obamas "Supermacht"

Rückblick 2010. Heute: Indien. Trotz des ökonomischen Aufschwungs wächst die Kluft zwischen arm und reich. 800 Millionen Menschen leben im Elend

Von Hilmar König *

Als US-Präsident Barack Obama bei seinem Staatsbesuch im November den Gastgebern in Neu-Delhi versicherte, ihr Staat sei kein aufstrebendes Schwellenland mehr, sondern bereits eine Supermacht, fühlten sich die Herrschenden geradezu geadelt. Die von ihnen ausgehaltenen Medien überschlugen sich vor Begeisterung. Die Welt schien in Ordnung.

Die aktuellen wirtschaftlichen Eckdaten untermauern auf den ersten Blick den rasanten Aufschwung, den »großen Sprung nach vorn«, wie einige der hiesigen Blätter die Entwicklung kommentierten. IWF-Managing-Direktor Dominique Strauss-Kahn nannte In­dien bei seinem Besuch Anfang Dezember ein »ökonomisches Kraftwerk«. Im dritten Quartal registrierte das statistische Amt eine Wachstumsrate von 8,9 Prozent, deren Triebkräfte der Farm- und der Dienstleistungssektor waren. Für 2011 lauten die Prognosen nun: mindestens neun Prozent Zuwachs. Die Pkw-Produktion als Indikator nationaler Wirtschaftskraft rechnet bis 2015 mit einem jährlichen Produk­tionswachstum von zwölf Prozent.

Morgan Stanley glaubt gar, Indien werde China wirtschaftlich bis 2013 überholt haben. Allerdings läßt sich Neu-Delhi auf solche fragwürdigen Prognosen nicht ein. Finanzminister Pranab Mukherjee bevorzugt stets, sich an »konservative Schätzungen« zu halten, wie er gern versichert. Fakt ist, daß Indien sich unter den zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt etabliert hat. Die Währungsrerserven lagen Ende November bei stolzen rund 300 Milliarden Dollar. In der »Forbes-Liste« der Reichsten der Welt befinden sich 69 indische Dollarmilliardäre, darunter die Konzernbosse Ambani, Mittal und Tata. Die Zahl der indischen Millionäre verdoppelte sich seit 2009 und betrug im Juni dieses Jahres 126700.

Als »Dank« für diese Entwicklung hat die indische Mittel- und Oberschicht die Vereinte Progressive Allianz, angeführt von der Kongreßpartei, im Frühsommer 2008 zum zweitenmal in Folge in die Regierungsgewalt gewählt. Premierminister Manmohan Singh steuert das Schiff. Hinter den Kulissen zieht Sonia Gandhi als Vorsitzende der Kongreßpartei und des Nationalen Beraterteams (NAC), das vorwiegend soziale Probleme behandelt, die Fäden. Ihr Sohn Rahul Gandhi profiliert sich behutsam zum Regierungschef in spe.

Auf dem Land

Alle drei sind sich des Riesenproblems bewußt, daß nämlich die »größte Demokratie der Welt« – die »Supermacht« von Obamas Gnaden – tief gespalten ist. Auf der einen Seite präsentieren die rund 300 Millionen Landsleute, denen es wirtschaftlich gut bis blendend geht, India. Auf der anderen Seite leben mindestens 800 Millionen Inder in Bharat. Diese Bezeichnung aus der Hindisprache bezieht sich vorwiegend auf die ländlichen Gebiete des 3,29 Millionen Quadratkilometer großen Subkontinents. Die immer größer werdende Kluft zwischen Armen und Reichen irgendwie zu überbrücken, mahnt die Regierung immer wieder beschwörend.

In diesem Sinne forderte die so­zial engagierte Schauspielerin Shabana Azmi dieser Tage auf einem Meeting in Neu-Delhi, der Nutzen der ökonomischen Entwicklung müsse auch »den Menschen am Rande der Gesellschaft« zugute kommen. Die prominente Schriftstellerin Arundhati Roy kritiserte Ende November auf einer Massenveranstaltung von Ureinwohnern im Bundesstaat Orissa die Mitschuld in- und ausländischer Konzerne am Massenelend, da sie natürliche Ressourcen auf Kosten der Armen ausplündern. Sie bezeichnete die Zahl der Bedürftigen in Indien als größer als die aller Armen in 25 afrikanischen Staaten.

Unter Premier Singh wurden deshalb eine Menge sozialer Projekte in Angriff genommen, eine Reihe bedeutender Gesetze verabschiedet oder zumindest entworfen. Am erfolgreichsten scheint das nationale ländliche Beschäftigungsprogramm (MNREGS) zu funktionieren, das einem Familienmitglied hundert Tage bezahlte Arbeit an einem ländlichen Entwicklungsprojekt garantiert. Millionen Haushalte kommen so landesweit zu einem zwar minimalen, doch festen Einkommen über einen festgelegten Zeitraum. Daß es bei der Umsetzung dieses Programms viele Schwächen und Fehler, Korruption und Betrug gibt, steht auf einem anderen Blatt.

Streit gibt es um ein nationales Identifikationsssytem, das alle Bürger erfassen soll, ein bislang fehlendes Personenstandswesen schaffen und der Entwicklung in Stadt und Land gleichermaßen dienen würde. Doch es öffnet dem Staat und dessen Sicherheitsapparat auch ungeahnte Möglichkeiten zum Schnüffeln. Deshalb wird der Widerstand dagegen aus Bürgerrechtskreisen immer lauter. Hart gerungen wird schließlich auch um einen Gesetzentwurf zum Recht auf Nahrung. Auch das gilt als Ansatz, die bestehende Kluft zwischen India und Bharat zu überbrücken.

Die Schattenseite

Trotz mancher Bemühung hat die »Supermacht« bei ihrem Sprung nach vorn zu viele Landsleute »abgehängt«, sind auf der Schattenseite Massenverelendung und Arbeitslosigkeit, Landflucht und damit verbundene Verslumung der Städte, schreiende Ungleicheit der Geschlechter, sinkende Kaufkraft, eine alarmierende Selbstmordrate unter Bauern in etlichen Gebieten Bharats und verbreitete Kinderarbeit nicht zu übersehen. Allein im Bundesstaat Westbengalen müssen 850000 Minderjährige mit einem Job das Überleben ihrer Familien sichern helfen. Im globalen Hungerindex 2010 liegt Indien auf Rang 67 von 84 Ländern und ist damit sogar um zwei Plätze gegenüber dem Vorjahr abgerutscht. 42 Prozent aller unterernährten Kinder in der Welt leben in Indien. Im globalen Index menschlicher Entwicklung, zu dem Gesundheit, Bildung, Lebenserwartung, Lebensqualität gehören, liegt Indien auf Position 119 von 169. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 64,4 Jahre. Die Müttersterblichkeit mit 450 von 100000 ist die höchste in Südasien.

Einer von Millionen Indern, die unter der Armutsgrenze leben, ist der 72 Jahre alte Bauer Motilal Das. Er lebt im Dorf Arita in Westbengalen. Er hat zwar im Zuge der Landreform ein Stück Acker erhalten. Doch die Bodenqualität ist schlecht. Obendrein gab es in diesem Jahr zu wenig und zu späte Niederschläge in der Regenzeit. Seine Reisernte erbrachte daher magere 75 Kilo. Unter normalen Bedingungen erntet Motilal eine Tonne des Grundnahrungsmittels. »Mit 75 Kilo komme ich nicht bis zur nächsten Saison über die Runden. An Verkauf ist schon gar nicht zu denken, « erklärt er.

Er kann sich am Tag nur zwei bescheidene Mahlzeiten leisten und zweimal Tee. Und das auch nur, weil er eine Rationskarte besitzt, auf die er verbilligt Reis und Mehl einkaufen kann. Eier, Fleisch und Fisch stehen nicht auf seinem »Speiseplan«. Er hat in seiner Hütte keinen Stromanschluß, besitzt ein Fahrrad, ein Huhn, zwei dürre Ochsen, die er nicht füttern kann, sondern die sich ihr Futter suchen müssen. Wie üblich in 65 Prozent aller indischen Dörfer hat auch Motilal keine Toilette im oder am Haus.

Im Widerstand

Der krasse Gegensatz zwischen India und Bharat führte auch 2010 zu enormen sozialen Spannungen. Die Gewerkschaften und die Sozialverbande der politischen Parteien, besonders der linken, fordern immer stärker die Rechte der Werktätigen ein und stehen an der Spitze der Kampagnen gegen Inflation und Preisauftrieb, für mehr Beschäftigung und gerechte Entlohnung. Die Kommunisten und anderen Linken haben gerade im letzten Quartal eine Menge Stoff für ihre Argumente erhalten, daß Liberalisierung und Rückzug des Staates nicht zum Abbau von Korruption führen, sondern eher noch das Gegenteil bewirken. Eine Reihe von Bestechungsskandalen, die dem Staat angeblich Milliardenverluste bescherten, erschütterte im November die Gesellschaft und legte nahezu die gesamte Wintersitzung des Parlaments lahm.

Nach wie vor spiegelt die maoistische Rebellion in weiten Teilen des Landes die Zerrissenheit und die Ungleichheit der Gesellschaft wider. Ende November beschloß die Regierung in einer Feuerwehraktion für 60 Distrikte, in denen die maoistische Guerilla aktiv ist, finanzielle Sonderhilfe in Millionenhöhe für die Entwicklung des Gesundheitswesens, der Bildung, des Straßenbaus und der Trinkwasserversorgung der rückständigsten Regionen. So soll den Aufständischen der Wind aus den Segeln genommen werden.

* Aus: junge Welt, 27. Dezember 2010


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