Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ayodhya polarisiert Indien bis heute

Vor 20 Jahren rissen fanatische Hindus die Babri-Moschee nieder

Von Hilmar König *

Der 6. Dezember 1992 markiert ein dunkles Kapitel in Indiens Geschichte: Fanatische Hindus rissen in Ayodhya im Unionsstaat Uttar Pradesh die Babri-Moschee nieder, um endlich »klare Verhältnisse« an jenem Ort zu schaffen, den sie als Geburtsstätte ihres Gottes Ram betrachten. Das Ereignis polarisierte die indische Gesellschaft wie nie zuvor.

Der Sturm auf die Babri-Moschee war Kulminationspunkt einer hinduistischen Bewegung, an deren Spitze Lal Krishna Advani stand, führender Politiker der rechten Indischen Volkspartei (BJP). Er hetzte auf seinen Propagandatouren durchs Land hunderttausende gläubige Hindus auf: Sie seien die Mehrheit und dürften die Schande nicht länger hinnehmen, dass ein Muslimherrscher im 14. Jahrhundert an ihrer heiligsten Stätte in Ayodhya – wo Gott Rama geboren worden sein soll – eine Moschee errichten ließ. Genau dort müsse ein Hindutempel gebaut werden. Am 6. Dezember 1992 machten die Sturmtrupps hinduistischer Fanatiker unter dem Beifall Advanis und anderer BJP-Führer die Moschee dem Erdboden gleich.

Die Zentralregierung in Delhi schaute dem Treiben wie gelähmt zu. Begleitet wurde der Frevel von einer Jagd auf Muslime in Ayodhya und der nahen Stadt Faizabad. Menschen wurden gelyncht. Häuser und Geschäfte gingen in Flammen auf. Das soziale Gefüge Indiens drohte einzustürzen. Die ohnehin nur auf dem Papier stehende »Harmonie« von Hindus und Muslimen wurde landesweit zerstört. Muslimische Intellektuelle, Künstler, Schauspieler, die sich nie sonderlich religiös gegeben hatten, ergriffen angesichts der Ereignisse plötzlich Partei. Im fernen Bombay kam es später zu furchtbaren »Vergeltungsschlägen«, radikale Muslimgruppen verübten Sprengstoffattentate, die hunderte Menschen das Leben kosteten.

20 Jahre später urteilt der in Faizabad lebende Politologe Krishan Pratap Singh: »Das Tempel- Moschee-Problem war den Menschen hier von außen aufgezwungen worden, von Leuten mit eigenen Ambitionen. Das vergiftete die Atmosphäre für immer. Heute schießen Hindus und Muslime zwar nicht aufeinander, doch es herrscht so etwas wie ein kalter Krieg. Äußerlich erscheint alles in Ordnung. Aber wenn die Masken fallen, kommt die bittere Realität von Hass und Misstrauen zum Vorschein. Die Muslime haben akzeptiert, dass sie im Schatten der Hindus leben müssen.«

Die Einschätzung trifft weitgehend auch auf andere Regionen Indiens zu, etwa auf den Unionsstaat Gujarat. Dort kam es vor zehn Jahren unter den Augen des BJPChefministers Narendra Modi zu Massakern an Muslimen, die in Gujarat etwa neun Prozent der Bevölkerung ausmachen. Im Februar 2002 war ein Eisenbahnzug mit Hindu-Pilgern angeblich von Muslimen in Brand gesetzt worden. 58 Passagiere starben in den Flammen. Die Untersuchungsberichte von Gerichten und Kommissionen widersprechen einander. Jedenfalls zog eine Woge von Gewalt durch Gujarat, vornehmlich gegen Muslime. Tausende Menschen verloren ihr Leben, Zehntausende ihre Existenzgrundlage, andere mussten flüchten.

Kommende Woche beginnen in Gujarat Wahlen zur Volksvertretung. Chefminister Modi wird ohne Zweifel wiedergewählt. Die BJP wird ihn wahrscheinlich bei den Parlamentswahlen 2014 als Kandidaten für das Amt des indischen Premierministers präsentieren. Wie schätzte Krishan Pratap Singh ein? »Von außen betrachtet, erscheint alles in Ordnung ...«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 06. Dezember 2012


Zurück zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage