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Verlaßt Indien!

Vor 80 Jahren legten Hunderttausende ein Unabhängigkeitsgelübde gegen die britische Kolonialmacht ab

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Am 26. Januar 1930 verabschiedete der 1885 gegründete Indische Nationalkongreß (später in seiner Kurzfassung als Kongreßpartei bekannt) eine von Mohandas K. Gandhi ausgearbeitete Resolution. Er erklärte den 26. Januar zum Unabhängigkeitstag des immer noch von Großbritannien kolonial unterjochten Indien. Bis dieses Ziel tatsächlich erreicht war, sollten noch siebzehneinhalb Jahre zähen Kampfes vergehen; erst am 15. August 1947 »entließ« London die Kronkolonie in die Unabhängigkeit. Dennoch legten schon im Januar 1930 Hunderttausende Inder das von Gandhi formulierte Unabhängigkeitsgelübde ab.

Auch wenn sich Gandhi als Hindu verstand, freundete er sich mit etlichen Lebensprinzipien der religiösen Minderheit der Jains an und setzte sie bewußt als Waffen im nationalen Befreiungskampf ein. Dazu zählte der Verzicht auf jede Form von Gewalt, zählte die Dialektik der Wahrheit; zählten Gelübde, nach Wahrheit und Ehrlichkeit, nach Keuschheit und Besitzlosigkeit zu streben, und zählte die Auffassung, daß Erkenntnisgewinn durch Leidenschaft und Emotionen eingeschränkt wird.

Nationale Front

Auf diesem Fundament formulierte und praktizierte er sein Konzept des »Sataygraha«, des Bestehens auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Gewaltloser Kampf, so machte er immer wieder deutlich, ist kein Zeichen von Feigheit, sondern von Mut, um die Wahrheit zu ringen. Die genannten Prinzipien wendete er geschickt und vielfältig an, mal als zivilen Ungehorsam, als Nichtzusammenarbeit mit den Kolonialbehörden, als Streik und passiven Widerstand, mal als Hungerstreik, Warenboykott, Mißachtung von Gesetzen, Nichtbefolgen von Anordnungen und Verweigerung von Steuerzahlungen. Das Geniale Gandhis war, daß er wie kein anderer die Massen mitzureißen, zu mobilisieren und zu politisieren verstand. So materialisierte sich seine Idee von der Gewaltlosigkeit allmählich in einer Massenbewegung gegen das Kolonialregime.

Da die indische Wirtschaft am Weltmarkt angebunden war, traf sie die 1929 grassierende Weltwirtschaftskrise mit voller Wucht. Der Preisverfall für Rohstoffe verursachte eine Welle von Insolvenzen unter den kolonialen Lieferanten, Plantagen und Bergwerken. Landpächter konnten ihren Zins nicht mehr zahlen und wurden vertrieben. Die indische Unternehmerschicht distanzierte sich zunehmend vom liberaldemokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, von dem sie bisher profitiert hatte. Die ländliche Oberschicht und das Unternehmerlager, bis dahin eine Stütze der britischen Herrschaft in Indien, schwenkten in das nationale Lager über und finanzierten wie schon die Bombayer Textilfabrikanten fortan die von Gandhi angeführte Massenbewegung. Damit war eine nationale Befreiungsfront gegen die britische Besatzung aufgebaut. Am 29. Dezember 1929 beschloß der Indische Nationalkongreß unter Leitung von Jawaharlal Nehru, für die vollständige Autonomie des Landes zu kämpfen.

Die Herausforderung der Kolonialmacht begann im April 1930, als sich Gandhi im westindischen Bundesstaat Gujarat auf den »Salzmarsch« von Ahmedabad nach Dandi an der Küste des Arabischen Meeres machte. Seine Absicht war es, mit dieser Aktion die aus den frühen Tagen des Kolonialregimes stammende britische Salzsteuer auszuhebeln, unter der alle Schichten des Volkes litten. Er wollte damit ein Fanal des Widerstands setzen, das Joch der Unterdrückung und Fremdherrschaft abzuschütteln. Die Kolonialherren schmunzelten anfangs, verspotteten Mahatma (deutsch: »Große Seele«) als Spinner, dem es nie gelingen werde, ihre Herrschaft zu brechen. Doch schon bald verging ihnen Hören und Sehen, denn Tausende folgten Gan­dhi unter dem Schlachtruf »Brecht das Salzmonopol!«. Jedes Dorf an der rund 380 Kilometer langen Marschstrecke brachte mehr Menschen zusammen. Am 5. April erreichte der Zug Dandi. Am nächsten Morgen schritt Gandhi zur Tat, nahm am Meeresstrand eine Salzkruste auf und warf damit symbolisch das schändliche Salzgesetz auf den Müllhaufen der Geschichte.

An vielen Küstenabschnitten taten es ihm Hunderttausende Menschen gleich. Indien erwachte. »Boykottiert englische Waren« lautete nun die massenhaft erhobene Forderung. Vizekönig Lord Irwin zog die vermeintliche Notbremse und steckte Gandhi Anfang Mai in den Kerker. Das provozierte landesweite Streiks. Eine unübersehbare, schweigende Menschenmenge näherte sich Ende Mai der Salzfabrik Dharsana. Sie sollte friedlich besetzt werden. Doch die Soldateska knüppelte und schoß die widerstandslosen Demonstranten kaltblütig nieder. Hunderte wurden verletzt, einige getötet. Der folgende weltweite Proteststurm zwang die Kolonialmacht zum Einlenken. Sie mußte den »halbnackten Fakir« – tatsächlich so vom späteren Premier Winston Churchill verunglimpft – schließlich freilassen und den Verkauf indischen Salzes genehmigen.

Spaltung Indiens

Mit anderen ähnlich aufgezogenen Kampagnen brachte Gandhi die Engländer immer wieder zur Weißglut und höhlte ihr Regime aus. Er rief auf, englische Baumwollprodukte zu boykottieren, ja zu verbrennen und auf einheimischen Spinnrädern und Webstühlen das grobe Khadi-Tuch herzustellen. Auch das fand Anklang im Volk. Überall loderten die Feuer. Der zivile Ungehorsam wuchs unaufhörlich.

Im August 1942 rief Gandhi auf der Sitzung des Allindischen Kongreßkomitees in Bombay die Engländer auf: »Quit India!«, Verlaßt Indien! Er wollte die sofortige, bedingungslose Unabhängigkeit. Das, da war er sicher, werde London helfen, gemeinsam mit den Alliierten den Krieg gegen den deutschen Faschismus zu gewinnen. Gandhi ist nun auf dem Gipfel seines Strebens nach nationaler Befreiung. Er und Tausende seiner Anhänger wurden inhaftiert. Als er 1944 wieder auf freien Fuß kam, war die Entwicklung über ihn hinweggerollt. Die Widersprüche zwischen der von Mohammed Ali Jinnah geführten Moslemliga und dem Indischen Nationalkongreß hatten sich zugespitzt. Unabhängigkeit wird es – eine letzte Rache Londons – nur zum Preis der Spaltung in zwei Staaten geben: in das mehrheitlich hinduistische Indien und das muslimisch geprägte Pakistan.

* Aus: junge Welt, 23. Januar 2010

Quellentext. »Das Volk beraubt und ausgebeutet«

Wir glauben, daß es das unbestreitbare Recht des indischen Volkes wie aller anderen Völker ist, frei zu sein, die Frucht der Arbeit zu genießen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, damit sie alle Möglichkeiten haben, sich zu entwickeln. Wir glauben auch, daß, wenn irgendeine Regierung ein Volk dieser Rechte beraubt und es unterdrückt, das Volk das grundsätzliche Recht hat, sie zu verändern oder zu beseitigen. Die britische Regierung in Indien hat nicht nur das indische Volk seiner Freiheit beraubt, sondern ihre Existenz beruht auf der Ausbeutung der Massen und hat Indien wirtschaftlich, politisch, kulturell und geistig ruiniert. Wir sind deshalb der Meinung, daß Indien die Verbindung zu Britannien abbrechen und vollständige Unabhängigkeit erlangen muß. (…) Indien ist ökonomisch ruiniert. Die Abgaben, die unserem Volk abgepreßt werden, stehen in keinem Verhältnis zu unserem Einkommen. (…) Dorfindustrien, wie das Handspinnen, sind zerstört, und so bleibt die Bauernschaft mindestens vier Monate im Jahr ohne Beschäftigung, ihr Intellekt verkümmert ohne handwerkliche Betätigung. Und es gibt keinen Ersatz – wie in anderen Ländern – für das zerstörte Handwerk. Zoll- und Finanzfragen sind so manipuliert worden, daß sie der Bauernschaft weitere Lasten aufbürden.

Die meisten unserer Importe sind britische Industrieprodukte. Die Zollbestimmungen begünstigen eindeutig diese Produkte. Und die Zolleinnahmen werden nicht dazu verwendet, die auf den Massen lastenden Bürden zu vermindern, sondern um eine sehr kostspielige Verwaltung zu unterhalten. Noch ungerechter ist die Regelung des Wechselkurses, die dazu geführt hat, daß Millionen aus dem Lande gezogen wurden.

Politisch ist Indiens Stellung nie so niedrig gewesen wie unter britischer Herrschaft. Keine Reformen haben dem Volk wirkliche politische Macht gebracht. Selbst die Größten unter uns müssen sich vor der ausländischen Autorität beugen. Die Rechte der freien Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit werden uns verweigert, und viele unserer Landsleute müssen im Exil leben und können nicht in ihre Heimat zurückkehren. (...)

Wir sind der Überzeugung, daß es ein Verbrechen gegen die Menschen und Gott ist, uns noch länger einer Herrschaft zu unterwerfen, die dieses vielfältige Unheil über unser Land gebracht hat. Wir anerkennen jedoch, daß der wirksamste Weg, unsere Freiheit zu gewinnen, nicht der gewaltsame ist.

Aus dem Unabhängigkeitsgelübde




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