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Außer Kontrolle

Am 3. Dezember 1984 kam es in Bhopal zum größten Chemieunfall der Geschichte

Von Udo Hörster *

Es war dunkel. Klagelaute, Schreien, Husten drangen herein. (…) Es gab viel Verkehr, ungewöhnlich für die Stadt zu diesem Zeitpunkt. Ich stand auf, machte das Licht an und schob den Vorhang zurück. Irgend etwas Unsichtbares gelangte in den Raum. Meine Augen begannen zu brennen und zu tränen. Ich brauchte Luft.« Mit diesen Worten beschrieb Ashay Chitre die Unglücksnacht vom 3. Dezember 1984 in Bhopal, Hauptstadt des indischen Bundesstaates Madhya Pradesh.

Ausgelöst wurde die Katastrophe in einem Pestizidwerk der US-amerikanischen Firma Union Carbide, das zu diesem Zeitpunkt außer Betrieb war. Wasser sickerte in einen mit der Chemikalie Methylisocyanat (MIC) gefüllten Tank und löste eine chemische Reaktion aus. Der Behälter platzte, rund 30 Tonnen MIC und andere Reaktionsprodukte bildeten eine Gaswolke, die sich über das nahegelegene Elendsviertel legte. Mindestens 3000 Menschen starben sofort. Hunderttausende erlitten Vergiftungen, die zu Hirnschäden, Lungenkrankheiten, Unfruchtbarkeit, Lähmungen und Herzleiden führten. An den Spätfolgen starben rund 20000 Menschen.

Bayer hilft nicht

Das Leiden in Bhopal hält bis heute an. Ein hoher Betonwall umgibt mittlerweile das 32 Hektar große Firmen­areal. Dahinter hat sich kaum etwas getan, eine Sanierung des Geländes hat nie stattgefunden. 1989 bequemte sich Union Carbide dazu, die Tanks und Fässer zu leeren und ein paar Chemikalien zu entsorgen. 1998 führte der indische Staat noch einige Reinigungsarbeiten durch, aber das war es dann auch. Und so tickt hinter dem Schutzwall weiterhin eine chemische Zeitbombe. Laut einer Untersuchung von Greenpeace lagern auf dem Gelände bis zu 4000 Tonnen Schadstoffe und 27000 Tonnen kontaminierte Erde. Das Grundwasser ist verseucht. Die Anwohner des Geländes müssen bis heute mit Trinkwasser aus weit entfernten Gebieten beliefert werden. Der Chemie-Cocktail macht die Menschen rund um das Katastrophengebiet immer noch krank. Über die belastete Muttermilch vererben sich die Schädigungen sogar an die nachfolgende Generation.

Westliche Chemiekonzerne erklärten nach der Katastrophe umgehend, ein solches Unglück könne sich in Europa oder den USA nicht zutragen. Der Leverkusener Multi Bayer schickte »Fakten zur Produktion von Methylisocyanat« an über 200 Redaktionen und wiegelte in punkto MIC ab: »Die Bayer AG verwendet ein völlig anderes Produktionsverfahren.« Dabei versicherte das Unternehmen sich auch der Unterstützung des damaligen NRW-Gesundheitsministers Friedhelm Farthmann (SPD). Nach einer Betriebsbesichtigung gab der Politiker Entwarnung: »Ein Giftgasunglück, wie es sich in Bhopal ereignet hat, ist bei Bayer auch unter ungünstigen Umständen nicht möglich.« Das Umweltministerium sah das – zumindest intern – anders. »Chemieanlagen mit einem Gefahrenpotential wie in Bhopal gibt es in der Bundesrepublik zu Hunderten«, zitierte das Magazin Natur aus einem vertraulichen Papier der Behörde.

Bayer besitzt umfassende Informationen über die Wirkung von MIC auf den menschlichen Organismus. Deshalb wurde der Chemiemulti aufgefordert, den Helfern in Bhopal dieses Wissen zur Verfügung zu stellen. Bayer blockte jedoch ebenso ab wie Union Carbide. Der renommierte Toxikologe Dr. Max Daunderer, der als einer der wenigen Experten in Bhopal half, berichtete gar nach seiner Rückkehr, daß Mitarbeiter von Bayer vor Ort Feldstudien betrieben, ohne die Rettungsarbeiten zu unterstützen.

Schwesterwerk in USA

Umweltverbände veröffentlichten den Aufruf »Bhopal mahnt«, der mehr Unterstützung für die Opfer der Katastrophe forderte, sicherere Chemieanlagen und eine Beendigung doppelter Standards, also die Abschaffung niedrigerer Sicherheitsstandards in Ländern des Südens. Wie berechtigt die Befürchtungen waren, sollte sich acht Monate nach Bhopal in der US-amerikanischen Stadt Institute in West-Virginia zeigen. Dort betrieb Union Carbide das Schwesterwerk zur indischen Anlage. Die Firma hatte stets betont, die beiden Fertigungsstätten wären nicht zu vergleichen, weil es in Institute automatisierte Kontrollen, Chloroform- statt Wasserkühlung und besser ausgebildetes Personal gäbe – tat dies aber wider besseren Wissens. Bereits vor Bhopal wußte der Konzern um die Gefährlichkeit der Produktion, wie ein später veröffentlichtes Memo zeigte. Es warnte vor »einer außer Kontrolle geratenen Reaktion, die eine katastrophale Auswirkung auf die Vorratstanks mit dem giftigen (MIC-)Gas« in Institute haben könnte.

Und »außer Kontrolle geratene Reaktionen« gab es in Institute reichlich, nur glücklicherweise ohne die verheerenden Folgen von Bhopal. Im August 1985 drangen durch ein Leck Pestizid-Vorprodukte nach außen und bildeten eine Gaswolke. 135 Menschen mußten ins Krankenhaus. Ein Monat später trat das giftige Pestizid Larvin aus, einen Tag später die Substanz Methylmercaptan und am 11. September Monomethylamin. Fortan sprachen die Bewohner vom »Toxic Hell Month«, vom »Gifthöllenmonat«. Die US-amerikanische Umweltbehörde EPA, die unmittelbar nach Bhopal alle Chemiewerke inspizierte, berichtete allein bei Union Carbide von 190 Leckagen, wobei 28mal MIC ins Freie gelangte.

Die Pannenserie riß auch nicht ab, als das Werk im Jahr 2001 von Bayer übernommen wurde, immer wieder traten giftige Chemikalien aus. Im August 2008 kam es dann in Institute zu einer riesigen Explosion, deren Erschütterungen in einem Umkreis von mehr als zehn Meilen zu spüren waren. Ein Arbeiter starb sofort, ein zweiter erlag später seinen schweren Verbrennungen.

Nicht umsonst hat deshalb die International Campaign for Justice in Bhopal (ICJB) auf ihrer Bustour zum Gedenken an »25 Jahre Bhopal« in Institute Station gemacht (siehe Interview). Auf dem Fahrplan der Ini­tiative stand auch die Bayer-Zentrale in Leverkusen, wo Bhopal-Opfer zusammen mit der Coordination gegen BAYER-Gefahren die Anwohner informierten. »Wir wollten den Leuten in Leverkusen sagen, daß sich so etwas wie in Bhopal nie wieder ereignen darf und daß niemand mehr so leiden sollte wie die Menschen in Bhopal und Institute«, so Rachna Dhingra von der ICJB.

* Udo Hörster arbeitet in der Coordination gegen BAYER-Gefahren

Aus: junge Welt, 28. November 2009



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