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Beleidigung der Opfer

Indien: Proteste gegen Bhopal-Urteil. Geschädigte sehen sich betrogen. Schwarzer Tag für alle Betroffenen

Von Hilmar König *

Eine landesweite Protestwelle ist die Antwort auf das Urteil über die Verursacher des Giftgasdesasters von 1984 im indischen Bhopal, Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh. Bei der Katastrophe in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1984 kamen mehr als 3000 Menschen ums Leben. In den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren stieg die Todeszahl unaufhaltsam. Menschenrechtler sprechen heute von 35000 Toten und weit über 100000 gesundheitlich schwer Geschädigten.

Am Montag hatte ein Gericht in Bhopal fast 26 Jahre nach der Katastrophe acht Verantwortliche der ­Union Carbide India Ltd., eine Tochter des damaligen US-Chemiekonzerns Union Carbide, der inzwischen von Dow Chemical vereinnahmt wurde, zu »symbolischen« Strafen verurteilt. Wegen »fahrlässiger Tötung« erhielt jeder der Angeklagten zwei Jahre Freiheitsentzug auf Bewährung, und das Nachfolgeunternehemen der UCIL muß umgerechnet 8700 Euro Strafe zahlen. Die Verurteilten befinden sich gegen Kaution inzwischen auf freiem Fuß.

Bei der Urteilsverkündung wurde der einstige Vorsitzende der Union-Carbide-Gruppe, Warren Anderson, der Mißstände und technische Mängel in dem indischen Tochterunternehmen geduldet hatte, nicht einmal namentlich erwähnt. Der Konzern hatte sich mit der Zahlung einer lächerlich geringen Entschädigung von 470 Millionen Dollar mit ausdrücklicher Zustimmung der indischen Regierung von jeder weiteren Verantwortlichkeit und Strafverfolgung freigekauft.

Kein Wunder, daß überlebende Betroffene sowie Organisationen, die sich seit Jahrzehnten für deren Rechte einsetzen, umgehend ihrer Empörung und Wut Ausdruck verliehen. Sie sprachen unisono von einem »schwarzen Tag« für die Opfer. Das Urteil sei »bedeutungslos« und eine »Beleidigung« der Toten und Geschädigten. Man fühle sich betrogen. Erstaunlich sei die »Unbekümmertheit« der Gerichte, wenn es um die Belange von Großunternehmen geht. Es sei ein Signal der Regierung für Investoren, in Indien straffrei agieren zu können. In jedem Fall, in den Reiche und Mächtige involviert sind, gebe es den Versuch, diese zu decken. Die Experten der Zentralen Untersuchungsbehörde Indiens (CBI) hätten ihre Aufgaben nicht erfüllt. Ermittler und Ankläger hätten »reine Inkompetenz« unter Beweis gestellt. Den Opfern sei keine Gerechtigkeit gewährt worden. Satinath Sarangi von der Bhopal-Gruppe für Information und Aktion äußerte: »Das weltweit größte industrielle Desaster haben sie auf einen Verkehrsunfall herabgemindert.«

Das skandalöse Urteil hat einen ganz aktuellen Bezug, denn im indischen Parlament liegt ein Gesetzentwurf zur Entschädigung bei Atomunfällen, gegen den die Opposition energischen Widerstand leistet. Das Gesetz, offenbar auf Druck der US-amerikanischen Atomlobby formuliert, begünstigt eindeutig die Nuklearindustrie. Brinda Karat, Politbüromitglied der KP Indiens (Marxistisch), schlug den Bogen vom Bhopal-Urteil zum Atomentschädigungsgesetz und sagte: »Wenn das Justizsystem so schwach ist, wie durch dieses Urteil bewiesen, dann ist die Vorstellung erschreckend, was nach einem nuklearen Unfall geschehen würde.« Indiens Justizminister Veerappa Moily kam immerhin zu der Erkenntnis, es sei nötig, aus dem Bhopal-Fall »Lektionen zu lernen«. Das Urteil vom Montag werde Auswirkungen auf das Gesetz zur Entschädigung bei Atom­unfällen haben.

* Aus: junge Welt, 9. Juni 2010


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