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Indien/Pakistan: Vereint im "Kampf gegen den Terror"?

Eine widersprüchliche Bilanz des Jahres 2001 auf dem südasiatischen Pulverfass

Dass die in Afghanistan von 1996 bis 2001 regierenden Taliban ihren religiös-ideologischen Ursprung in Pakistan haben, ist allgemein bekannt. Bekannt ist auch, dass an der Gründung und Ausbildung dieser Spezies von "Koranschülern" neben dem pakistanischen Geheimdienst ISI auch der US-amerikanische CIA beteiligt war. Drei Milliarden US-Dollar sollen die Taliban seiner Zeit aus den USA erhalten haben, um ihre Organisation aufzubauen, berichtete Selig Harrison vom Woodrow Wilson International Center for Scholars im März anlässlich einer Konferenz über "Terrorismus und Regionale Sicherheit" in London (junge welt, 15.03.2001). Wieviel davon oder aus einem anderen CIA-Topf direkt an die Al-Qaida-Organisation von Ossama bin Laden geflossen ist, wurde nicht mitgeteilt. Fest steht aber, dass Taliban und Al-Qaida ihren in Washington wegen der Verwendbarkeit im Kampf gegen die sowjetischen Truppen so geschätzten radikalen Islamismus vorwiegend in Pakistan eingeübt haben - unter Aufsicht und Billigung der Regierung. Diese besondere Abart des Islam benutzte Pakistan als Exportartikel auch in andere zentralasiatische Staaten wie Usbekistan und Tadschikistan. Ein großer Teil der Rebellenorganisation im indischen Teil der sowohl von Indien als auch von Pakistan beanspruchten Kaschmir-Region steht ebenfalls unter radikal-islamistischem Einfluss. Dies trifft beispielsweise auf "Jamaat-Ulema-e-Islami" und auf "Lashkar-e-Toiba" zu, die einen "Jihad" ("Heiligen Krieg") gegen Indien predigen und in Opposition zur zurückhaltenden Politik des pakistanischen Militärmachthabers General Pervez Musharraf stehen.

Im Frühjahr gab es erste Anzeichen für eine Politik der Distanzierung Islamabads von den afghanischen Taliban und von den radikal-islamischen Gruppierungen in Pakistan. Anlass waren die Zerstörungen der Buddhastatuen im afghanischen Bamian, die auf weltweite Empörung stießen. Da General Musharraf seit seinem Putsch im Oktober 1999 um internationale Anerkennung bemüht war, reihte er sich in die Front der Protestierenden ein. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, um im eigenen Land gegen die Opposition vorzugehen, wobei kein Unterschied gemacht wurde zwischen radikalen Islamisten und politischen Oppositionellen, die von der Regierung eine Rückkehr zur Demokratie verlangten (z.B. die ARD-"Allianz zur Wiederherstellung der Demokratie"). Mitte März wurden innerhalb einer Woche mehr als 1.600 Politiker und Aktivisten festgenommen (FAZ, 23.03.2002). Den Protesten von Seiten des Britischen Commonwealth (Pakistans Mitgliedschaft ist zur Zeit suspendiert) gegen die willkürlichen Verhaftungen begegnete Musharraf mit dem Hinweis, dass er bereits konkrete Schritte zur Schaffung "echter demokratischer Strukturen" eingeleitet habe und dass für den Oktober 2002 Parlamentswahlen angesetzt seien.

Ende Mai erhielt Pakistan eine unerwartete Offerte aus Indien: Premierminister Atal Bihari Vajpayee lud General Musharraf zu einem Besuch in Neu-Delhi ein. Auch wenn diese Einladung letztlich auf einen dringenden Wunsch der US-Administration zurückzuführen ist (seit Clintons Besuch in Indien im Frühjahr 2000 bemühen sich die USA um eine Entspannung im Kaschmir-Konflikt), entspringt sie doch auch der Überzeugung, dass ein Fortschritt in der Kaschmir-Frage nur in direkten Gesprächen mit Pakistan zu erreichen sei. Alle anderen Mittel - z.B. auch direkte Gespräche mit den Rebellenorganisationen - waren erfolglos geblieben. Auch ein im November 2000 verkündeter einseitiger Waffenstillstand hatte nichts eingebracht: Das Blutvergießen in der Provinz Jammu und Kaschmir ging weiter und rief die indischen Militärs auf den Plan, die bei der Regierung ein stärkeres militärisches Engagement einklagten. Pakistan reagierte auf die Einladung umgehend "mit großer Freude", bedeutete sie doch eine Bestätigung der offiziellen pakistanischen Position, den Kaschmir-Konflikt in Dreiergesprächen zwischen Indien, Pakistan und den betroffenen Kaschmiren lösen zu können. Der Gipfel zwischen Vajpayee und Musharraf, der vom 14.-16. Juli im indischen Agra stattfand, verlief indessen ergebnislos. Während der pakistanische "Präsident" (Musharraf, 1999 durch einen Militärputsch an die Macht gekommen, hatte sich am 20. Juni selbst zum Präsidenten ernannt und vereinigte damit alle drei wichtigen Positionen in seiner Position: Armeechef, Regierungschef und Präsident) ausschließlich über die Kaschmirfrage verhandeln wollte, war die indische Seite darauf bedacht, eine Reihe anderer Fragen (z.B. Terrorismus, Drogenbekämpfung, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Grenzfragen außerhalb Kaschmirs) zu besprechen und das Kaschmir-Problem - nach indischer Auffassung eine rein indische Angelegenheit - möglichst auszuklammern. Zwar vereinbarten die Delegationen eine Fortsetzung der Gespräche, doch dazu kam es bis zum Beginn des US-Kriegs gegen Afghanistan nicht mehr.

Die Teilnahme an der von den USA angeführten "Allianz gegen den Terror" nach dem 11. September war für Indien von Anfang an eine Selbstverständlichkeit. Neu Delhi bot Washington sofort jegliche Unterstützung und die Benutzung ihrer See- und Luftwaffenstützpunkte an. Indem Indien auf die nahe liegende Verbindung zwischen Islamabad, den Taliban und den verschiedenen islamistischen Rebellengruppen in Kaschmir verwies, brachte es gleichzeitig Pakistan in Bedrängnis. Musharraf musste alles tun, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, mit dem Hauptfeind der USA, der Al-Qaida und den Taliban, gemeinsame Sache zu machen. Pakistan zog also nach: Ende September sagte der pakistanische Geheimdienst ISI den USA zu, bei der Suche nach Ossama bin Laden helfen zu wollen. Als erster islamischer Staat hat Pakistan zu verstehen gegeben, dass die vom britischen Premierminister Tony Blair vorgelegten Beweise für die Verantwortung Bin Ladens für die Attentate des 11. September überzeugend seien. Pakistan sicherte den USA auch die Benutzung seines Luftraums sowie logistische Unterstützung zu. Schließlich brach Islamabad mit dem Taliban-Regime und plädierte für eine Beteiligung aller "Ethnien" an einer zukünftigen Regierung in Kabul. Lediglich "gemäßigte" Taliban sollten an einer solchen Koalition beteiligt sein. Aus westlicher Sicht wurde Pakistans Militärregierung damit "salonfähig", wie die Süddeutsche Zeitung am 6. Oktober schrieb. Einen Tag zuvor hatte sich Tony Blair zu einem Sondierungsgespräch in Islamabad aufgehalten, bei dem es aber nicht mehr viel zu besprechen gab, denn Musharraf "hatte bereits allem zugestimmt, was man vernünftigerweise von ihm erwarten konnte" (SZ, 6./7.10.2001). Dieselbe Erfahrung konnten US-Außenminister Powell und sein deutscher Amtskollege Fischer bei ihren Staatsbesuchen Mitte Oktober machen - da war der Krieg schon in Gang. Der diplomatische Stafettenlauf hochrangiger westlicher Politiker, die sich abwechselnd in Islamabad und Neu Delhi die Klinke in die Hand gaben, verfolgte zwei Ziele: Einmal musste Pakistan unter Druck gesetzt, aber auch mit gehörigen Finanzzusagen gelockt werden, sich der US-Allianz gegen Afghanistan anzuschließen. Pakistan nimmt schon allein aus geografischen Gründen eine Schlüsselstellung im Krieg ein; hinzu kommen die ethnischen, religiösen und politischen Verbindungen zwischen den paschtunischen Taliban in Afghanistan und den Paschtunen in Pakistan, die es in einem Krieg zu kontrollieren gilt. Zum zweiten musste Indien zur politischen und militärischen Zurückhaltung gegenüber Pakistan in der Kaschmirfrage gezwungen werden. Dies fiel Neu-Delhi nicht leicht, zumal nach dem Bombenanschlag auf das Parlament der Hauptstadt der indischen Provinz Jammu und Kaschmir am 1. Oktober, bei dem 38 Menschen starben, die Gewaltkonflikte zwischen indisch-nationalistischen Hindus und radikalen Moslems eskalierten.

Die Spannung zwischen Pakistan und Indien steigerte sich zur realen Kriegsgefahr nach einem Anschlag auf das indische Parlament in Neu-Delhi am 13. Dezember, dem 12 Menschen zum Opfer fielen: sechs Angreifer, fünf indische Polizisten und ein Gärtner. Die indische Regierung machte die von Pakistan aus operierende Terroristengruppe Lashkar-e-Taiba für das Attentat verantwortlich. Wenn die USA das Recht hätten, Afghanistan zu bombardieren, dann hätte Indien das "Recht", die "terroristischen Ausbildungslager im pakistanisch besetzten Teil Kaschmirs anzugreifen", sagte der nationalistische Parlamentsabgeordnete und frühere Premier V.P. Singh (FR, 15.12.2001). Die Regierung verlangte von Pakistans Machthabern, sie sollten unverzüglich gegen zwei Terrororganisationen vorgehen: Die bewaffneten Gruppen Lashkar-e-Taiba ("Armee der Reinen") und Jaish-e-Mohammad ("Streitkraft des Propheten") müssten zerschlagen und ihre Führer festgenommen werden. Indien und Pakistan begannen mit groß angelegten Truppenverlegungen an die gemeinsame Grenze und an der Demarkationslinie in Kaschmir häuften sich die Gefechte und Schießereien zwischen den Grenztruppen, die fast täglich auch Todesopfer forderten. (Vgl. hierzu die Chronik der Ereignis ab Dezember auf der Friedens-Homepage: www.uni-kassel.de/fb10/frieden/Indien/Aktuell-Chronik/). Ende des Jahres verhängten beide Staaten gegenseitig Sanktionen: So wurde jeweils die Hälfte des Botschaftspersonals ausgewiesen, die verbleibenden Botschaftsangehörigen durften sich nur noch im Bereich der jeweiligen Hauptstadt aufhalten, Fluglinien des jeweiligen Nachbarlands wurde die Benutzung des eigenen Luftraums verboten. Waren die Diplomaten der führenden westlichen Staaten nach dem 11. September damit beschäftigt, Indien und Pakistan in die Kriegsallianz gegen Afghanistan einzubinden, so bemühten sie sich jetzt, beide zur gegenseitigen Mäßigung anzuhalten. Insbesondere die USA befürchteten, dass mit einem indisch-pakistanischen Krieg ihr eigener Krieg gegen Al-Qaida gefährdet würde. Allein die Verlegung pakistanischer Truppen von der afghanischen Grenze zur indischen Grenze würde die Fluchtmöglichkeiten für Ossama bin Laden und dessen Anhänger erhöhen. US-Präsident Bush drängte seinen Verbündeten, den pakistanischen Machthaber Musharraf, noch mehr gegen die Terrororganisationen im eigenen Land zu unternehmen und würdigte gleichzeitig, dass bereits 50 Terroristen festgenommen worden seien. Und zur Beruhigung Indiens waren die Worte Bushs auf seiner Ranch im texanischen Crawford zwischen den Jahren gedacht: "Ich hoffe, dass Indien zur Kenntnis nimmt, dass der Präsident (Musharraf) energisch und aktiv vorgeht" (SZ. 29./30.12.2001).

Anfang 2002 verbot Musharraf eine Reihe religiöser Parteien und schwor in einer Ansprache an die pakistanische Nation der Förderung des Terrorismus ab (FR, 12.01.2002). Der Spannungszustand zwischen den beiden regionalen Atommächten konnte dadurch aber nicht entscheidend gemindert werden. Er wird es auch nicht, solange die Kaschmirfrage nicht gelöst ist. Aussichten dafür gibt es trotz demonstrativer Geschäftigkeit Großbritanniens und der USA nicht. Joseph Keve kommentierte in der Schweizer Wochenzeitung die Situation desillusionierend: "Und das ist der komischste Aspekt der gegenwärtigen Spannungen: Indien wie Pakistan hoffen auf die USA. Ausgerechnet das Land, das den nuklearen Wettlauf initiiert hat, die meisten Massenvernichtungswaffen besitzt, den Welthandel dominiert und ärmere Staaten plündert, soll den Nachbarn unter Druck setzen, die Verhandlungen bestimmen und die Rolle eines Friedensstifters übernehmen." (WoZ, 24.01.2002)

Peter Strutynski


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