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Indien im fünften Gang

Kapitalistischer Boom auf dem Subkontinent: Automobilsektor will in diesem Jahr abermals alle Rekorde brechen

Von Thomas Berger *

Seinen Führerschein hat er schon lange. Doch daß er tatsächlich einmal im eigenen Pkw unterwegs sein würde, hätte sich Sam Kalwala selbst vor einigen Jahren kaum träumen lassen. Jetzt steht der Kleinwagen vor der Haustür des Pfarrers im südindischen Städtchen Sircilla, der mit diesem Attribut der Moderne endgültig sichtbar in die neue Mittelklasse Indiens aufgestiegen ist. Er ist einer von 1,3 Millionen Autokäufern im Land – Tendenz rapide steigend. Die Viermillionen-Marke wird Prognosen zufolge im Jahr 2016 erreicht werden, der Umsatz der Branche dürfte sich bis dahin von aktuell 38 auf 145 Milliarden US-Dollar erhöhen. Ein Boom, der seit Jahren stetig an Dynamik gewinnt und zumindest die nächste Dekade absehbar anhalten wird. Nirgendwo wächst die Mittelschicht mit ihrem speziellen Konsumvermögen so rapide wie auf dem Subkontinent, und das eigene Auto gewinnt als Statussymbol derer, die es sich leisten können, zunehmend an Bedeutung. Während Hunderte Millionen Landsleute kaum wissen, wie sie sich und ihren Kindern eine ordentliche Mahlzeit am Tag sichern sollen, stellt sich für andere nur noch die Frage, welches Modell der fahrbare Untersatz denn sein soll.

Sie haben die Qual der Wahl. Mit geplanten 75 Neuvorstellungen der verschiedenen Hersteller werden 2008 sechsmal soviele wie im zurückliegenden Jahr präsentiert. Dies illustriert das enorme Tempo, mit dem die Branche zulegt.

Unter den deutschen Konzernen ist BMW vorn dabei, jener Konzern, der gerade angekündigt hatte, aus Profitgründen zu Hause mehr als 8000 Jobs zu vernichten. Die Bayern haben ein hochmodernes Werk außerhalb der süd­indischen Metropole Chennai (Madras) stehen. VW hingegen war lange Zeit nur mit der tschechischen Tochter Skoda direkt präsent. Skandale, die es in diesem Zusammenhang gab, waren ebenfalls schädlich. Doch wer sich ein Stück vom großen Kuchen sichern will, der nimmt auch gelegentliche Rückschläge in Kauf. Auf der Automesse in der Hauptstadt Delhi zu Jahresbeginn tummelten sich 2000 Firmen, quasi alles, was in der Branche Rang und Namen hat. Es war die protzige Zurschaustellung eines Wirtschaftssektors, der nicht unerheblich zum gesamtindischen Wachstum von anhaltend neun Prozent beiträgt und mittelfristig 25 Millionen Jobs garantieren soll.

Indien wird Autobauland. Vorbei die Zeiten, da lediglich der behäbige »Ambassador«, ein einheimisches Produkt im Sechziger-Jahre-Design, als Privatwagen die Straßen bevölkerte. Bunt ist heute die Mischung, in der selbst vereinzelte Großlimousinen und Nobelkarossen vertreten sind. Eines allerdings ist beim Blick hinter die Kulissen anders als noch vor drei, vier Jahren: Statt sich als Einzelkämpfer abzurackern und damit eine Bruchlandung am nächsten Straßenbaum zu riskieren, haben sich die meisten Konzerne nunmehr auf strategische Bündnisse verlegt. Die Joint-Ventures, in der Regel zwischen einem einheimischen und einem global agierenden Partner, sollen Kosten senken und Risiken minimieren helfen, zudem Synergieeffekte nutzen. Während die Ausländer noch einen kleinen technologischen Vorsprung einzubringen haben, sind die indischen Partner mit den besonderen Herausforderungen und Hürden ihres Heimatlandes vertraut.

Zu diesen Allianzen, die bereits bestehen oder gerade in der Gründungsphase sind, gehört die von Renault mit Mahindra&Mahindra (M&M). Das Bündnis gilt als Erfolgsgeschichte. Gelang es doch, den Renault »Logan« mit 20 Prozent Kostenersparnis und binnen Rekordzeit von nur 24 Monaten auf den Markt zu bringen – wo er sich inzwischen elf Prozent Anteil gesichert hat. Auf dieser Basis sollen in nächster Zeit weitere 100 Millionen Dollar an Investitionen fließen. Gleich das Zehnfache, also bis zu einer Milliarde, will ein konkurrierendes Joint-Venture einsetzen. Fiat hat sich mit dem indischen Tata-Konzern verbündet, und beide wollen mittelfristig 100000 Pkw beider Marken pro Jahr bauen.

Tata hat mit seinem zur Messe im Januar vorgestellten »Nano« ein Stück globale Automobilgeschichte geschrieben. Der Miniwagen zum Minipreis tritt in erster Linie als Konkurrent für den Maruti Suzuki 800, das bisher preiswerteste Auto auf. Da verwundert es nicht, daß Suzuki seine existierenden Produktions- und Forschungsanlagen in Indien mittels einer Finanzspritze von 875 Millionen Dollar fit machen will für die absehbare Wettfahrt in diesem Marktsegment. Und Renault will mehr: Die Franzosen schmiedeten zusätzlich mit dem einheimischen Bajaj-Konzern – einem führenden Produzenten der weitverbreiteten Motorrikschas –eine Allianz. 100 Millionen Dollar sollen in ein weiteres Kleinwagenprojekt fließen.

Auch in der Lkw-Sparte locken reißender Absatz und satte Profite. Jeweils eine halbe Milliarde Dollar haben die Joint-Ventures von Volvo/Eicher und Nissan/Ashok Leyland angekündigt. Da wird auch der einheimische Marktführer Tata mit seiner Nutzfahrzeugabteilung nicht umhin kommen, große Summen in den Ausbau zu stecken, will man nicht wichtige Marktanteile an diese gestärkte Konkurrenz verlieren. Die Politik greift den boomenden Fahrzeugherstellern jedenfalls unter die Arme – mit immer neuen Großprojekten zum Ausbau des Straßennetzes. Denn für die berüchtigten Holperpisten, die in Indien Straßen genannt werden, sind die glänzenden Neuentwicklungen wenig geeignet.

* Aus: junge Welt, 14. März 2008


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