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Boom auf Subkontinent

Indiens Wirtschaft glänzt mit soliden Wachstumsraten. Preissteigerungen nähren jedoch Inflationsangst und treffen Arme besonders hart

Von Thomas Berger *

Mit etwas Glück könnte Indiens Wirtschaft im kommenden Haushaltsjahr um 8,5 Prozentpunkte zulegen. Dies sind chinesische Dimensionen beim Wachstumshype - und sie scheinen auch für die Nummer zwei Asiens erreichbar. Jedenfalls argumentiert man im Finanzministerium in Neu-Delhi so, wenn es um die Kennzahlen für das Wirtschaftsjahr (nicht Kalenderjahr) 2010/2011 geht. Damit würde das Ergebnis für die zurückliegenden zwölf Monate noch einmal deutlich übertroffen. Für den Zeitraum 2009/2010, als nahezu die gesamte Welt stagnierte, wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes bereits zwischen 7,5 und 7,75 Prozent. Zwar gibt es noch geringfügige Unklarheiten zum endgültigen Ergebnis, da der Zeitraum immer bis Ende März läuft und somit einige Restdaten noch nicht vollständig ausgewertet sind. Fakt ist aber in jedem Fall, daß die kleine Konjunkturdelle, welche die globale Wirtschaftskrise 2008 in der indischen Statistik hinterlassen hat, endgültig der Vergangenheit angehört. Ohnehin war Indien weniger als andere von dem Einbruch betroffen. Das Finanzsystem auf dem Subkontinent bleib intakt - es hatte wenig Verbindungen zu den ins Schlingern geratenen und teilweise sogar zusammengebrochenen US-Banken. Das CMIE, ein einheimisches Wirtschaftsforschungszentrum, geht für das kommende Abrechnungsjahr sogar besonders optimistisch von bis zu 9,2 Prozent BIP-Zuwachs aus, sollte in den nächsten Monaten nichts Gravierendes geschehen.

Indiens Motor brummt, und das betrifft nahezu jede Branche. Selbst die Landwirtschaft, ein notorisches Sorgenkind der durch zahlreiche Disproportionen gekennzeichneten Wirtschaft des 1,2 Milliarden-Einwohner-Volkes, dürfte diesmal kräftig zum positiven Gesamtergebnis beigetragen haben. Wenn die demnächst beginnende Regenzeit die erwartet ausreichenden Niederschläge bringt, soll bei Getreide sogar die vor zwei Jahren eingefahrene Rekordernte von gut 234 Millionen Tonnen noch übertroffen werden, meldeten jetzt indische Medien. Monsun-Vorboten wie im nordöstlichen Unionsstaat Assam, so die englischsprachige Tageszeitung The Hindu, seien ein Indiz dafür, daß in den Kornkammern des Landes voraussichtlich ausreichend Niederschläge fallen werden. Zusammen mit angeschlossenen Bereichen könnte der Agrarsektor um 5,8 Prozent zulegen. Das wäre eine stolze Zahl, hat die Landwirtschaft doch zuletzt fast immer nur minimal im Plus gelegen.

Die entscheidenden Wachstumsimpulse des riesigen regionalen Marktes kommen jedoch aus der Industrie. 10,1 Prozent mehr Ausstoß im Elf-Monats-Zeitraum bis Februar markierten einen enormen Anstieg gegenüber den gerade einmal drei Prozent im Jahr zuvor. Allein die Ausfuhren dieses Sektors der Volkswirtschaft werden den Prognosen zufolge bis März 2011 noch einmal um umgerechnet 30 auf dann 220 Milliarden Dollar zulegen. Dies ist auch deshalb möglich, weil die Textilbranche ihre Krisenphase offenbar überwunden hat. Schwierigkeiten bereiten jedoch gestiegene Materialkosten, notwendige Kapazitätserweiterungen und die vor allem in bestimmten Landesteilen immer wieder unzuverlässige Stromversorgung. So mancher Betrieb steht regelmäßig still, weil die Energiezufuhr wieder einmal für etliche Stunden zusammengebrochen ist. Nach wie vor produziert Indien nur rund zwei Drittel seines Strombedarfs.

Was als genereller Trend Regierung, Ökonomen und einen wachsenden Mittelstand freut, hat für die breite Öffentlichkeit auch zahlreiche negative Effekte. So geht das enorme Wirtschaftswachstum mit spürbaren Preissteigerungen einher. Um 12,69 Prozent zogen beispielsweise mit Stichtag 17. April übers Jahr die Energiekosten wie Strom, Benzin und Kerosin zum Kochen in den Haushalten an. Der gesamte statistische Warenkorb der sogenannten primären Grundprodukte, also einschließlich Nahrungsmitteln, hat sich sogar um 13,55 Prozent verteuert.

Da die Einkommen trotz der Wachstumszahlen im gleichen Zeitraum kaum nennenswert gestiegen sind, trifft die Teuerung die Ärmsten wieder einmal besonders hart. Für jene Menschen, die mit umgerechnet einem bis zwei Dollar am Tag auskommen müssen, stellt schon jede kleinste Preissteigerung ein enormes Problem dar. Trotz teilweise ambitionierter Programme der regierenden Mitte-Links-Koalition der Vereinten Progressiven Allianz (UPA) unter Führung der Kongreßpartei (INC) von Premier Manmohan Singh und UPA-Koordinatorin Sonia Gandhi, tritt die Politik bei der konkreten Armutsbekämpfung weiter auf der Stelle. Halbherzigkeiten, Mißmanagement bei einzelnen Projekten und die stetig durch das Bevölkerungswachstum von rund 20 Millionen Einwohnern pro Jahr verschärfte demographische und soziale Herausforderung lassen Fortschritte in diesem Bereich kaum erkennen.

* Aus: junge Welt, 5. Mai 2010


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