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"Census 2011" vor Abschluß

Volkszählung in Indien. Kastenzugehörigkeit wird in gesonderter Befragung ermittelt

Von Hilmar König *

Bis Ende dieses Monats soll die zweite Phase des »Census 2011«, der Volkszählung in Indien, abgeschlossen sein. Sie begann pünktlich am 9. Februar. Den Start für die erste Phase hatte vor genau einem Jahr Indiens Generalregistrator und Zensuskommissar C. Chandramouli vorgenommen. Da ging es »lediglich« um die Auflistung der Behausungen der über 240 Millionen Haushalte. Jetzt jedoch kommen die 2,7 Millionen Zensusbeamten, nahezu ausschließlich Lehrer, mit umfangreichen Fragebögen, die in Englisch und 15 Landessprachen verfaßt wurden, zu den mehr als 1,2 Milliarden Indern.

Die Erhebung wird eine detaillierte Statistik liefern über demografische Entwicklungen, ökonomische Aktivitäten, Beruf, Beschäftigungsverhältnis, Bildungsstand, Familiengröße, Trinkwasserverfügbarkeit und sanitäre Einrichtungen, Fruchtbarkeits- und Sterberaten, Sprachen, Religionen, Migrationen, Urbanisierung und Landflucht. So erhalten die Behörden wertvolle Informationen für die Planung, für politische Schwerpunkte und die langfristige Erarbeitung der Budgets. Dieses gigantische logistische Unternehmen läßt sich der Staat rund 1,2 Milliarden Dollar kosten. Die Auswertung der in 17000 Sammelstellen abzuliefernden Fragebögen wird in den nächsten Monaten elektronisch vorgenommen. Es ist die in der Geschichte Indiens 15. Volkszählung, die in der Regel alle zehn Jahre stattfindet. Damit begonnen hatten die britischen Kolonialherren im Jahre 1872.

Dem Zensus 2011 folgt zwischen Juli und September noch eine Erhebung: Erfragt wird dann die Zugehörigkeit zum hinduistischen Kastensystem. Das war in der ursprünglichen Volkszählung nicht vorgesehen, denn das über 3000 Jahre alte Kastenwesen ist ein politisch heikles Thema. Deshalb verzichtete man aus gutem Grund in den vergangenen 80 Jahren auf diesbezügliche Fragen im Zensus. Die Verfassung lehnt Kastendiskriminierung ab. Und so wollte im unabhängigen Indien keine Regierung offiziell in diesem »Wespennest« herumstochern lassen. Praktisch besteht die Diskriminierung der unteren Kasten, der Kastenlosen (Dalits) und der Ureinwohner (Adivasi) noch immer, vor allem in den ländlichen Gebieten. Nicht selten kommt es zu blutigen Ausschreitungen und Zusammenstößen.

Die jetzige Regierung unter Premier Manmohan Singh gab dem Druck von Regionalparteien, wie der Samajwadi Party, der Rashtriya Janata Dal (RJD) oder der Janata Dal (U), nach. Sie verlangten einen Kastenzensus, damit endlich ein klares Bild über die am meisten entrechteten unteren Kasten entsteht. So werde der Administration ein Instrument in die Hand gegeben, gezielter als bisher diese bedürftigen Bevölkerungsschichten staatlich zu fördern, argumentierten sie. RJD-Chef Lalu Prasad Yadav erklärte: »Kasten sind eine Realität im Land, die nicht ignoriert werden darf.« Deshalb sei die Zählung notwendig, gut und richtig. Auch in Regierungskreisen glaubt man inzwischen, bei der Planung sozialer Maßnahmen und Fördermittel für das Millionenheer der Armen wäre ein fundierter Überblick der Kastenstruktur äußerst hilfreich.

Zugleich ist der Widerstand gegen die beschlossene, rund 680 Mio Dollar kostende Kastenzählung unübersehbar. Dieser Zensus »hilft nur Politikern, sich ein Reservoir an Wählerstimmen zu sichern, um an der Macht zu bleiben«, meint Surinder Nath, Professor für Anthropologie an der Delhi University. Die Erhebung könnte zu mehr sozialen Konflikten führen, befürchtet er.

Eine Bewegung »Meri Jaati Hindustani« ist entstanden. Sie rät, auf die Zensusbögen »Meine Kaste ist indisch« einzutragen. Ihre Mitglieder sind davon überzeugt, daß sich das ganze Unterfangen auf die »Einheit, Integrität und Prosperität Indiens desaströs auswirken« wird. Andere Kritiker sprechen von der »Zerstörung der nationalen Einheit«, von der schlimmsten Volksbefragung in der indischen Geschichte , die nur noch mehr soziale Ungleichheit zur Folge haben werde. Klar ist, daß angesichts von Tausenden Kasten und Unterkasten die noch zu bildende Expertengruppe, die die Auswertung und Klassifizierung der Zensusresultate vornehmen soll, vor einer Herkulesarbeit stehen wird.

* Aus: junge Welt, 23. Februar 2011


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