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Zeit für Regelung des Grenzdisputs

Delhi und Peking widersprechen der Kriegshysterie indischer Medien

Von Hilmar König, Delhi *

Der Dalai Lama, Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, wird im November in den nordöstlichen indischen Unionsstaat Arunachal Pradesh reisen. Für China ist das Anlass, »gegen die antichinesischen Machenschaften der Dalai-Clique« zu protestieren.

Die Volksrepublik China erhebt territorialen Anspruch auf Arunachal Pradesh und betrachtet es zumindest als »umstrittenes Gebiet« – mit teilweise tibetischer Bevölkerung. Da die Grenzfragen zwischen Indien und China seit Jahrzehnten nicht geklärt sind, kommt es immer wieder zu Zwischenfällen an der »Linie der aktuellen Kontrolle«, der seit dem Krieg 1962 existierenden Grenze.

Der seit 1959 im indischen Dharamsala residierende Dalai Lama war bereits mehrmals in Arunachal Pradesh. Diesmal will er dort unter anderem ein Spezialhospital einweihen. Indiens Außenminister Somanahalli Mallaiah Krishna erklärte: »Arunachal Pradesh ist ein Teil Indiens und der Dalai Lama kann sich überall in Indien frei bewegen.« Nur habe er zu beachten, dass er sich nicht zu »politischen Entwicklungen« äußern darf. Chinas »starke Besorgnis«, so Minister Krishna, entbehre jeglicher Grundlage.

Indessen berichten indische Medien aus undurchsichtigen Gründen und ohne Quellenangaben nicht nur von »chinesischen Vorstößen« im Grenzgebiet, sie entfachen geradezu eine Kriegshysterie. Ihre »Informationen« werden weder vom indischen Militär noch von lokalen Verwaltungen oder der Regierung in Delhi bestätigt. Ungeachtet dessen wird in Zeitungsartikeln und Fernsehberichten ein chinesischer Angriff oder, mehr noch, eine mit Pakistan koordinierte Invasion zur Balkanisierung Indiens heraufbeschworen. Indiens Innenministerium erstattete dieser Tage gegen zwei Reporter der Zeitung »The Times of India« Anzeige. Sie hatten wahrheitswidrig berichtet, zwei indische Grenzsoldaten seien durch Schüsse von chinesischer Seite verletzt worden.

Laut »The Hindu« handeln die Medien im Auftrag verschiedener Meinungsmachergruppen: ehemalige Diplomaten und Sicherheitsdienstler, pensionierte Militärs und rechte Hindu- Nationalisten, die sich selbst zu »Wächtern der nationalen Sicherheit« ernannt haben. Der Autor der Analyse verurteilt die Kriegshysterie und weist darauf hin, dass keiner der beiden Staaten von einem bewaffneten Konflikt profitieren würde. Auch der namhafte China-Experte Subramanian Swamy warnte vor Scharfmachern, die als einstige Regierungsbeamte heute in »Denkfabriken« sitzen und von militärischen Abenteuern fabulieren.

Premier Manmohan Singh gab dieser Tage zu, dass die gehäuften Medienberichte »eine Reflexion inadäquaten Informationsflusses« aus seiner Regierung seien. Das werde man korrigieren. An der über 4000 Kilometer langen Grenze gebe es mitunter Vorfälle. Sie seien aber nicht so alarmierend, wie von der Presse dargestellt. Deren Beiträge zeichneten kein akkurates Bild von der Lage an der Grenze. Auch Indiens Armeechef General Deepak Kapur sieht keinen Grund zur Aufregung. Die Zwischenfälle hielten sich im üblichen Rahmen, die Medien sollten nicht überziehen. Und M.K. Narayanan, Regierungsberater für nationale Sicherheit, äußerte: »Ich vermag nicht zu verstehen, warum die Medien einen solchen Rummel veranstalten.« Dieser könnte dazu führen, dass »irgendwo irgendwer den kühlen Kopf verliert und irgendetwas schief läuft«.

Die Außenministerien beider Staaten haben angesichts dieser Kampagne betont, dass es keinerlei Gewaltakte in der Grenzregion gibt. Wie bereits seit einigen Jahrzehnten seien dort Frieden und Ruhe gewährleistet. Auf Anfrage der »Times of India« erklärte das Außenministerium in Peking, das Verhältnis zwischen beiden Staaten sei stabil und »das gegenseitige Vertrauen wächst«. Es bestünden jetzt günstige Bedingungen, den Grenzdisput ein für allemal zu lösen. Auf die Grundprinzipien dafür haben sich beide Seiten bereits im Jahre 2005 geeinigt.

Delhi und Peking befürworten unmissverständlich eine entspannte Lage, die sie als wesentliche Voraussetzung zum Erreichen ihrer ambitiösen wirtschaftlichen Ziele, zur Fortsetzung ihres intensiven Handels und der Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten wie auch in zahlreichen internationalen Gremien brauchen. Trotzdem testen offensichtlich auf indischer Seite gegenwärtig Kräfte die Belastbarkeit der indisch-chinesischen Beziehungen. Immerhin bewirkten diese Kreise, dass sich ein ständiges parlamentarisches Komitee mit den angeblichen chinesischen Vorstößen befassen wird.

* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2009


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