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Wohlstand per Dekret

Opposition wirft Indiens Planungsbehörde Armutsbekämpfung mit Statistiktricks vor. Auf Schätzungen beruhende Zahlen sollen rosiges Bild zeichnen

Von Hilmar König *

Indiens staatliche Plankommission steht seit mehr als einem Monat wieder im Feuer der öffentlichen Kritik. Es geht um das immer wiederkehrende Thema Armut und die Festlegung der offiziellen Grenzwerte, wann ein Mensch hilfsbedürftig ist. Laut jüngster amtlicher Statistik (die sich auf die Jahre 2009 und 2010 bezieht) hat sich der Lebensstandard der Bevölkerungsgruppe mit den geringsten Einkommen aufgrund staatlicher Maßnahmen zwischen den Jahren 2004 und 2010 um sieben Prozent verbessert. Die Grundlage für diese Zahl liefern scharf kritisierte Schätzungen der täglichen Aufwendungen für Lebensnotwendiges. Diese weit von der Realität entfernten Angaben sollen die neue offizielle Armutsgrenze markieren. Sie wird demnach bei völlig illusorischen 28,35 Rupien (knapp über 40 Eurocent) für Bewohner städtischer und 22,42 Rupien (etwas über 35 Cents) für Bewohner ländlicher Gebiete gezogen.

Angesichts ständiger Preissteigerungen, vor allem auch bei Nahrungsmitteln, und anhaltend geringer Einkommen der Ärmsten, die oft nicht einmal den markierten Mindestsatz erreichen, bezeichneten Parteipolitiker und Parlamentsabgeordnete diese Zahlen als »absurd«. Sie seien offenbar von Beamten erstellt worden, die in ihren ziemlich komfortablen Büros jegliche Beziehung zur Masse der Bevölkerung verloren hätten. Selbst 100 Rupien am Tag würden kaum ausreichen für bescheidene Mahlzeiten, so der Tenor der Kritiker.

Deren Hauptattacke richtete sich gegen den stellvertretenden Chef der Plankommission, den eingefleischten neoliberalen »Reformer« Montek Singh Ahluwalia und nicht gegen Premier Manmohan Singh. Der steht als Regierungschef (des Parteienbündnisses United Progressive Alliance unter Führung der Kongreßpartei INC) weiteren zentralen Behörden und Ministerien vor und ist auch Vorsitzender der Plankommission. Dennoch gilt Ahluwalia als treibende Kraft hinter dem Versuch, die Armut im 1,2-Milliarden-Einwohner-Staat statistisch zu reduzieren. Sharad Yadav von der Partei Janata Dal (U) warf den Vizeplanungschef vor, er würde die »Armen ausbeuten« und solle deshalb seinen Hut nehmen. Mulayam Singh Yadav von der Samajwadi Party erklärte, 65 Prozent der Bevölkerung würden unter der tatsächlichen Armutsgrenze leben (international wird ein Satz von umgerechnet 1,25 US-Dollar pro Tag angenommen). Wie könne man da die Zahlen der Planer akzeptieren, die der Weltöffentlichkeit nur ein rosiges Bild vom indischen Lebensstandard zeichnen wollten? Basudeb Acharia von der KPI (Marxistisch) warf der Plankommission »betrügerische Methoden« und »Unterschätzung der Armut« vor. In einer Stellungnahme der Allindischen Demokratischen Frauenassoziation hieß es, diese Statistik würde viele Menschen in Not und Elend von Wohlfahrtsmaßnahmen ausschließen. Die Organisation verwies darauf, daß die jüngsten Zahlen noch unter jenen liegen, die die Plankommission im September vorigen Jahres dem Höchsten Gericht vorgelegt und damit einen landesweiten Proteststurm provoziert hatte.

Der jetzige Widerstand gegen den offensichtlichen Versuch, die Statistik zu schönen und zugleich riesige Summen für Subventionen und Wohlfahrtsprogramme einzusparen, veranlaßte Premier Singh bereits im März zu der Entscheidung, eine »technische Expertengruppe« bilden zu lassen. Diese soll, gestützt auf die Ergebnisse eines noch nicht vollständig ausgewerteten sozioökonomischen Zensus aller Haushalte, in einem vielschichtigen Prozeß die amtliche Armutsgrenze neu bestimmen. Die jetzigen Parameter würden nicht alle Aspekte erfassen, so die Begründung des Regierungschefs. Es gelte, die menschlichen Grundbedürfnisse zu berücksichtigen und auf ein Leben in Würde zielen. Bislang ist diese Expertengruppe noch nicht nominiert worden.

Ahluwalia zeigte sich nicht einsichtig. Er wies die Einwände als »prinzipienlose Öffentlichkeitskampagne« zurück. »Das Herumkritteln an der Regierung, sie reduziere die Armutsgrenze künstlich«, sei »völlige« Quatsch«. Das Kabinett der Vereinten Fortschritts­allianz habe die Armut in sechs Jahren spürbar gesenkt. Davon würden jetzt rund 360 Millionen Inder profitieren. Viele soziale Projekte seien zudem gar nicht an das Armutsniveau gekoppelt, so das Recht auf Bildung, die nationale Beschäftigungsgarantie für ländliche Bevölkerung oder das Gesetz zur Nahrungssicherheit. Die meisten Betroffenen würden gern unter der Armutsgrenze bleiben, weil sie dadurch im Öffentlichen Verteilungssystem (PDS) Lebensmittel zu staatlich subventionierten Preisen erhalten, so Ahluwalia zynisch.

Die Armutsgrenze ist keine theoretische Linie oder simple statistische Größe, sondern von ihrer Festsetzung hängen Wohl und Wehe von Millionen sehr bedürftiger Inder ab.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 2. Mai 2012


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