Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Indien: Die Bauernopfer des Booms

Das Wirtschaftswunder hat die Lage der Armen kaum verändert - ein ehrgeiziges Beschäftigungsprogramm soll für Abhilfe sorgen

Von Christoph Fleischmann*

Nein, die Mehrheit der Inder profitiere nicht vom ökonomischen Reformkurs, den sein Land seit 15 Jahren verfolge. C.T. Kurien, einst Direktor des renommierten Madras Institute of Development Studies, attestiert Indiens Weg auf die Weltmärkte nur marginale soziale Effekte. Das gelte auch für die IT-Metropole Bangalore, wo das vermeintliche Wirtschaftswunder eines Subkontinents augenscheinlich die herrlichsten Blüten treibt. Während im indischen Silicon Valley in den neunziger Jahren nur einfacher Programmierservice für Weltmarktfirmen geleistet wurde, ist nun Business Process Outsourcing das neue Zauberwort: Renommierte IT-Unternehmen lagern Buchhaltung, Service- und Entwicklungsabteilungen hierher aus: Nokia, Sony, Samsung, Siemens, Bosch und SAP, um nur einige global players zu nennen, die in Bangalore Präsenz zeigen. Nach einem McKinsey-Report ist Business Process Outsourcing die am schnellsten wachsende Branche des Landes - bis 2008 soll sie für ein Drittel der Exporterlöse aufkommen.

Derzeit wächst Indiens Ökonomie um sechs bis sieben Prozent pro Jahr und hat eine kaufkräftige Mittelschicht auf dem Tender, die heftig expandiert und die neuen Einkaufszentren der zu Mega-Metropolen mutierenden indischen Großstädte frequentiert. C.T. Kurien allerdings kann das fiebrige Bangalore um ihn herum nicht beeindrucken: "Es gibt den Anschein von Wohlstand, mehr Waren in den Städten, wohl auch mehr Beschäftigung. Nur jenseits der Metropolen tut sich nichts dergleichen." In der Tat wohnen und arbeiten immer noch über 70 Prozent der gut eine Milliarde Inder auf dem Land - als Bauern, Tagelöhner oder Ladenbesitzer. Die neue Zeit erkennt man hier allenfalls daran, dass es mehr Telefonanschlüsse gibt, ansonsten sieht es weitgehend noch so aus wie vor 15 Jahren, als der Weg hinaus auf die globalen Märkte begann. 1991 sorgte der damalige Wirtschaftsminister und heutige Premier Manmohan Singh dafür, dass durch eine Abwertung der Rupie die Exporte florierten. Gleichzeitig fielen Einfuhrschranken, wurden Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen gefördert und die Einkommensteuer sowie Unternehmenssteuer gesenkt, um auch auf diese Weise ausländisches Kapital zu interessieren. Die Armen traf in diesen Reformjahren besonders ein dramatischer Anstieg der Lebensmittelpreise, trotzdem jubelte die Wirtschaftspresse über zurückgehende Armutszahlen.

Und der Wirtschaftsanalytiker C.T. Kurien moniert, bei diesen Wertungen beziehe man sich allein auf das Einkommen. Was aber, fragt er, wenn eine Familie, um diese Einkünfte zu erzielen, mehr für Transport und Kleidung ausgeben müsse? "Stellen Sie sich eine Familie vor, die an der Armutsgrenze lebt. Was wird sie in einer solchen Lage tun? Sie wird weniger essen, um Geld zu verdienen." Die entscheidende Frage sei doch, ob im Sog des Booms mehr Inder besser ernährt würden. "Leider ist die Antwort darauf: Nein."

In der Tat verweist der UN-Bericht über die Millenniumsziele im asiatisch-pazifischen Raum darauf, dass der Anteil mangelernährter Inder zwar prozentual minimal abgenommen habe, in absoluten Zahlen wegen des Bevölkerungszuwachses aber gestiegen sei: Waren es 1991 noch 217 Millionen Menschen, lag der vergleichbare Wert 2001 bei 222 Millionen.

Auch der Arbeitsmarkt führt zu einem eher ambivalenten Urteil über das indische Wirtschaftswachstum: Nach 1991 entstanden deutlich weniger Arbeitsplätze als in den Jahren zuvor. Mehr Technik in der Landwirtschaft bindet weniger Arbeitskraft. In den Städten ist die öffentliche Hand ein zurückhaltender Arbeitgeber, viele kleine Unternehmen, teilweise noch Manufakturen, kapitulieren vor der Konkurrenz. Wer die neuen Arbeitsplätze bei großen Firmen lobt, darf nicht übersehen, wie viele durch Reformen und Wettbewerbsdruck verloren gehen.

C.T. Kurien ist nicht prinzipiell gegen die Weltmarktintegration, aber - so glaubt er - sein Land hätte sich vorsichtiger öffnen sollen. "Gib den Leuten eine Chance, in den Wettbewerb zu gehen." Es sei nach wie vor unerlässlich, dass der Staat massiv in Bildung, Gesundheit und subventionierte Lebensmittel investiere. Ansonsten blieben die Armen die Verlierer des wirtschaftlichen Aufstiegs.

Anfang Februar trat ein Gesetz in Kraft, das Arbeitslosen im ländlichen Raum eine Beschäftigung von über 100 Tagen im Jahr garantiert. Für Aufforstung, Anlegen von Kanälen, Bewässerungssystemen und dergleichen zahlt der Staat einen Lohn von 80 Rupien (etwa 1,45 Euro) am Tag - im Hauhaltsjahr 2006/2007 kostet dieses Arbeitsbeschaffungsprogramm umgerechnet 5,5 Milliarden Euro. Da zunächst nur 200 von 593 Distrikten einbezogen sind, werden die Ausgaben wachsen, wenn bis Ende 2009 alle Regionen erfasst sind. Kritiker befürchten, dass es Probleme geben wird, soviel Geld bereit zu stellen. Infolge drastischer Steuersenkungen hat Indien eine der niedrigsten Steuerquoten weltweit - klar unter dem OECD-Durchschnitt. Immerhin wird das in der öffentlichen Debatte erkannt: Wenn man den Anschluss an die Industrieländer halten wolle, müsse der Staat über mehr Geld verfügen.

Indien im Vergleich - Bruttoinlandsprodukt pro Kopf

(Stand 2004 / in Dollar)
Indien 630
Singapur21.900
Brunei13.707
Malaysia3.468
Philippinen997
Vietnam472
Laos267

Quelle: NZZ

* Christoph Fleischmann, freier Journalist in Köln; Homepage: www.christoph-fleischmann.de

Der Beitrag erschien in: Freitag, Die Ost-West-Wochenzeitung, 18, 3. Mai 2006
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.



Zurück zur Indien-Seite

Zur Asien-Seite

Zurück zur Homepage