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Das Vermächtnis der "Damini"

Millionenfach Trauer und Protest in Indien zum Tod des Vergewaltigungsopfers

Von Hilmar König *

Die 23 Jahre alte Studentin, die am 16. Dezember in einem Bus in Delhi bestialisch von sechs Männern vergewaltigt worden war, erlag am Samstag in einem Hospital in Singapur ihren schweren Verletzungen. Millionen Menschen gedachten am Wochenende in Indien der jungen Frau und forderten Gerechtigkeit und Gleichberechtigung der Frauen.

Kurz nach Sonnenaufgang wurde am Sonntag im Delhier Stadtteil Dwarka nach hinduistischem Ritual die Leiche der Studentin verbrannt. Diese war am frühen Morgen auf dem Indira-Gandhi-Flughafen von Premier Manmohan Singh und Kongressparteipräsidentin Sonia Gandhi in Empfang genommen worden. Die Polizei hatte das Areal um das Krematorium abgeriegelt, Medien und Öffentlichkeit ausgesperrt – aus Sorge vor unkontrollierbaren Protestaktionen. Aus diesem Grund waren auch 40 Kompanien der Sicherheitskräfte im Zentrum der Hauptstadt aufmarschiert. Zehn U-Bahn-Stationen waren zeitweilig geschlossen worden, um Aufläufen vorzubeugen. Dennoch versammelten sich an mehreren Orten der Stadt Tausende Menschen zum stillen Gedenken an die Verstorbene. Ebenso in Kolkata, Bangalore, Mumbai, Hyderabad und anderen großen Städten.

In einer Stellungnahme der Antikorruptionspartei Aam Aadmi Party hieß es: »Wir haben als Nation versagt, Bedingungen zu schaffen, unter denen Frauen ein normales Leben führen können, ohne Demütigungen ausgesetzt zu sein. Wir als Gesellschaft haben versagt, eine Kultur der Achtung und Gleichberechtigung der Frauen zu schaffen.«

Die Medien hatten der jungen Frau, deren Identität nicht enthüllt wurde, in Anlehnung an einen Bollywood-Film aus dem Jahre 1993 den fiktiven Namen »Damini« gegeben. In dem Streifen kämpfte die Heldin entschlossen und erfolgreich um Gerechtigkeit für ein vergewaltigtes Dienstmädchen. Das Schicksal der neuen »Damini« hat zumindest das Geschlechterproblem, die auf vielen Ebenen praktizierte, oft mit Gewalt vollzogene Missachtung der Inderinnen – angefangen beim Abtreiben weiblicher Föten, über Benachteiligung von Mädchen in der Familie, Bildungsmangel, Kinderheiraten, Kindersklaverei, Vergewaltigungen bis zu Mitgiftmorden – sowie die Debatte um Frauenrechte mit nie gekannter Vehemenz ins öffentliche Bewusstsein gerückt. »Damini«, so ihre Eltern, hinterlässt ein Vermächtnis, das Indien aufrütteln muss, das so schnell nicht von der Tagesordnung der Politik verschwinden darf und hoffentlich bis tief in die patriarchalische Gesellschaft hinein wirken wird: Ändert eure Grundhaltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht.

Bollywood-Star Shah Rukh Khan erklärte, er schäme sich sehr, »Teil dieser Gesellschaft und Kultur« zu sein. Premier Singh äußerte: »Wir müssen sichern, dass dieser Tod nicht vergeblich war.« Kiran Bedi, ehemalige Polizeichefin Delhis und jetzt Sozialaktivistin, meinte, jeder Bürger sei aufgefordert, ganz persönlich darüber nachzudenken, »wie wir als Eltern und Lehrer die Söhne unseres Landes großziehen.«

Wie schwer es wird, »Daminis« Vermächtnis zu erfüllen, verdeutlichen zwei neue Fälle: Am 27. Dezember wurde in Delhi eine 42-Jährige am Straßenrand aufgefunden, die betäubt und vergewaltigt worden war. In Punjab war eine vergewaltigte Minderjährige von der Polizei in den Selbstmord getrieben worden. Von 661 registrierten Vergewaltigungsfällen in Delhi in diesem Jahr wurde ein einziger Täter gerichtlich verurteilt. Den sechs mutmaßlichen Tätern vom 16. Dezember drohen nun Anklagen wegen Morde und damit die Todesstrafe.

* Aus: neues deutschland, Montag, 31. Dezember 2012


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