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Wie starb Ram Singh?

Indien: Spekulationen über die Umstände des Todes des Hauptangeklagten im Vergewaltigungsprozeß

Von Hilmar König *

Hat sich der Hauptverdächtige in dem Vergewaltigungsprozeß in Neu-Delhi selbst gerichtet? Oder haben Mitgefangene Hand angelegt? Das sind die Fragen, über die in Indien seit Montag wild spekuliert wird und auf die eine gerichtliche Untersuchung der Umstände, die Obduktion der Leiche und der gerichtsmedizinische Bericht Antworten finden sollen. Sicher ist lediglich, daß Ram Singh, der Fahrer des Busses, in dem das Verbrechen mit Todesfolge am 16. Dezember vorigen Jahres verübt worden war, am Montag tot in seiner Zelle im Tihar-Gefängnis von Delhi aufgefunden wurde.

Indiens Zeitungen und Nachrichtenportale rätseln, ob es ein »Freitod oder Mord« war. Sie verweisen auf Ungereimtheiten um den Tod des Ram Singh. Am Montag um 5.45 Uhr war der 35jährige in seiner Zelle mit einem selbst gefertigten Strick um den Hals an einem Gitter des Ventilationsschachtes hängend entdeckt worden. Seine drei Mitinsassen schliefen, als der Wächter Alarm schlug. Sie hatten angeblich überhaupt nichts von dem Geschehen mitbekommen. Die Leitung des Tihar-Gefängnisses formulierte vorsichtig, er sei »erhängt aufgefunden« worden. Auf Spekulationen ließ sich hinter den Kerkermauern niemand ein.

Zunächst hieß es, Ram Singh habe sich in Einzelhaft befunden, weil er als selbmordgefährdet eingestuft gewesen sei. Und er habe deshalb rund um die Uhr einen Wächter gehabt. Beides wurde dann berichtigt. Wächter machten demnach alle zwei Stunden einen Kontrollgang, ohne etwas Verdächtiges zu bemerken. Die vier Zelleninsassen hätten bis Mitternacht erzählt. Alles sei normal abgelaufen. Die Frage bleibt trotzdem, warum die Vorbereitungen zum Selbstmord niemandem auffielen. Immerhin befindet sich das Gitter in etwa 2,80 Meter Höhe. Um dorthin zu gelangen, mußte Singh auf einen Eimer steigen. Das Seil soll er aus Bettzeug gemacht haben. Beides ist bestimmt nicht lautlos geschehen.

Jedenfalls gestand Innenminister Sushil Kumar Shinde einen »schweren Sicherheitsfehler« ein. Postwendend wurde die Bewachung der anderen vier angeklagten Erwachsenen und des gesondert einsitzenden Jugendlichen verschärft. Auswirkungen des Todes des Hauptverdächtigen auf den gesamten Gerichtsprozeß erwartet man nicht.

Für Ram Singhs Eltern und Anwälte bestehen keine Zweifel an einem Mord. Der Angeklagte habe angeblich gute Karten in dem Prozeß gehabt. Die Anklageargumente seien so schwach, daß das Verfahren mit Freispruch hätte enden müssen. Doch wegen der anhaltenden landesweiten Empörung der Bürger über den Tod des Vergewaltigungsopfers sei das nicht möglich gewesen. Deshalb müsse in die Untersuchung jetzt die Zentrale Ermittlungsbehörde Indiens (CBI) eingeschaltet werden. Außerdem hätte der Angeklagte im Falle eines Selbstmordes ganz gewiß einen Abschiedsbrief hinterlassen. Der Mordverdacht aus dieser Gruppe richtet sich gegen die Behörden. Andere Überlegungen gehen von der Tatsache aus, daß Sexualverbrecher in indischen Gefängnissen eine besondere Zielgruppe sind und oft selbst Opfer von Gewalt werden. Singhs Mithäftlinge geraten somit ebenfalls ins Fadenkreuz der Ermittler.

Das Echo in der indischen Öffentlichkeit ist zwar vielfältig, aber der Tenor ist eindeutig. Es spiele keine Rolle, ob es Selbstmord oder Mord war. Hauptsache sei, daß es jetzt einen Verbrecher weniger gibt. Dessen Ende sei eine gute Nachricht. Man sollte für »Schweine und Hunde keine Tränen vergießen«. Er habe bekommen, was er verdient. Er habe sowieso kein Recht gehabt zu leben.

Auch die Familie des Vergewaltigungsopfers meldete sich zu Wort. Sie zeigte sich »überrascht, aber nicht traurig« über den Tod Ram Singhs. Er habe lediglich für seine Sünden gebüßt. Die anderen fünf Angeklagten müßten ihm folgen und auch gehängt werden.

Der Hauptverdächtige war der Fahrer des Busses, in dem die 23jährige Studentin Jyoti Singh Pandey am 16. Dezember vorigen Jahres von der sechsköpfigen Besatzung vergewaltigt, bestialisch gefoltert und dann aus dem Fahrzeug geworfen worden war. Sie erlag den schweren inneren Verletzungen am 29. Dezember 2012. Ram Singh soll die Idee zu der verbrecherischen »Spritztour« gehabt haben. Zunächst hatte das Sextett einen Gemüsehändler in den Bus gezerrt und ihn seiner Tageseinnahmen und seines Handys beraubt. Dann folgte die unvorstellbar brutale Attacke auf die junge Frau und ihren Begleiter. Der Gemüsehändler brachte die Polizei auf die Spur der Verbrecher.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 14. März 2013


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