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Für Indiens Frauen bleibt der Alltag gefährlich

Urteil gegen Vergewaltiger erwartet / Insgesamt 100 000 Verfahren wegen sexueller Gewalt anhängig

Von Stefan Mentschel, Delhi *

Fast neun Monate nach der tödlichen Vergewaltigung in einem indischen Bus soll das erste Urteil fallen. Derweil dauert die Debatte über sexuelle Gewalt im Land an. Doch für Frauen bleibt der Alltag gefährlich

Wut und Trauen waren groß. Wochenlang protestierten Zehntausende Inder gegen die brutale Gruppenvergewaltigung einer Studentin in der Hauptstadt Delhi. Sechs Männer waren Mitte Dezember in einem Bus über die Frau hergefallen. Sie hatten sie dabei so schwer misshandelt, dass sie an ihren Verletzungen starb. Die Medien berichteten rund um die Uhr und boten auch die Plattform für eine kontroverse Debatte über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft.

Auch auf Druck der Straße wurden die mutmaßlichen Täter schnell gefasst und vor Gericht gestellt. Der Tod des Hauptangeklagten überschattete den Prozess im März. Wärter hatten ihn erhängt in seiner Zelle im Delhier Tihar-Gefängnis gefunden.

Achteinhalb Monate nach der Vergewaltigung wird nun mit einem ersten Urteil gerechnet. An diesem Samstag soll das Strafmaß gegen den zur Tatzeit noch 17-jährigen Angeklagten verkündet werden. Im Falle einer Verurteilung muss er mit drei Jahren Jugendarrest rechnen. Seinen vier erwachsenen Mittätern droht die Todesstrafe. Deren Urteile sollen im September fallen.

Nandini Rao vom Bürgerkollektiv gegen sexuelle Gewalt in Delhi beobachtet den Prozess kritisch. »Justiz und Politik hatten ein Schnellgericht versprochen. Doch davon kann keine Rede sein.« Dabei hätte die Justiz auch etwas gegen ihr schlechtes Image tun können. So seien landesweit mehr als 100 000 Verfahren wegen sexueller Gewalt anhängig, viele davon seit Jahren. »Täter werden so nicht abgeschreckt«, findet die Frauenrechtlerin.

Die Gesetze sind dagegen so gut wie nie zuvor. Ende Dezember hatte die Regierung ein Komitee mit der Prüfung der Rechtslage beauftragt. Einen Monat später legte es einen Katalog auf den Tisch, in dem fast alle Probleme angesprochen wurden – von häuslicher Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe bis hin zu sexuell motivierten Straftaten durch indische Polizisten und Soldaten im Dienst. Nicht alle Vorschläge flossen in die neue Gesetzgebung ein. »Trotzdem wurde die Rechtslage erheblich verbessert«, sagt Binalakshmi Nepram, deren Netzwerk Frauen in Konfliktregionen unterstützt.

Im Alltag allerdings hat sich fast nichts geändert. Die Medien melden fast täglich neue Übergriffe gegen Frauen im ganzen Land. Erst vor einer Woche erschütterte die Gruppenvergewaltigung einer Fotografin in Mumbai die Öffentlichkeit. Nach offiziellen Angaben gab es in Indien im Jahr 2012 fast 25 000 Vergewaltigungen. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

»Wir Frauen fühlen uns auf Indiens Straßen nicht sicher, wir können nicht wir selbst sein, uns nicht als gleichberechtigte Bürgerinnen eines demokratischen Landes fühlen«, klagt Aktivistin Nepram. »Deshalb muss die Regierung Gewalt gegen Frauen als ein nationales Sicherheitsproblem einstufen und mit der gebotenen Ernsthaftigkeit dagegen vorgehen.«

Gesellschaftlicher Wandel ist aber nicht nur vom politischen Willen abhängig. »Er muss in den Familien beginnen«, fordert Binalakshmi Nepram. Diskriminierung starte in Indien bereits vor der Geburt, denn weibliche Föten würden noch immer gezielt abgetrieben. Hintergrund sei die traditionelle Bevorzugung von Söhnen. »Alle Frauen sollten dagegen aufbegehren und sagen: Ein Kind ist ein Kind.«

Nandini Rao hat aber auch eine positive Entwicklung beobachtet. »Nach der Vergewaltigung im Dezember waren viele junge Leute auf den Straßen, die bis dahin nichts mit Politik zu tun hatten«, sagt sie. »Sie haben begonnen, Fragen zu stellen. Sie wollen wissen, was mit diesem Land los ist. Sie wollen, dass sich etwas ändert. Und das ist ermutigend.«

* Aus: neues deutschland, Samstag, 31. August 2013


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