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Applaus für Todesurteile

Indien: Mit dem Richterspruch gegen die vier Sexualverbrecher endet Indiens Trauma nicht. Gewalt gegen Frauen – tief wurzelndes gesellschaftliches Problem

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Indiens Öffentlichkeit ist gespalten. Nicht darüber, daß das Gericht in Delhi-Saket am vergangenen Freitag die vier Sexualverbrecher zum Tod durch den Strang verurteilt hat. Ein fünfter hatte im März im Gefängnis Selbstmord begangen. Und ein sechster Beteiligter war im August von einem Jugendgericht zur drei Jahren Haft verurteilt worden. Aber unterschiedliche Meinungen gibt es in der Frage, ob die Todesstrafe das soziale Problem der Gewalt gegen Frauen, gegen Schwache und gegen Minderheiten eindämmen oder gar aus der Welt schaffen kann.

Am 16. Dezember vorigen Jahres hatte die »Sechserbande« die 23 Jahre alte Physiotherapeutin Jyoti Singh Pandey in Neu-Delhi in einem fahrenden Bus vergewaltigt, nachdem die Verbrecher ihren männlichen Begleiter bewußtlos geschlagen hatten. Das Opfer starb zwei Wochen später an den schweren inneren Verletzungen der Gruppenvergewaltigung, deren bekannt gewordene gräßliche Einzelheiten zu schildern sich die Feder sträubt.

Wie ein Großteil der Medien und der Bevölkerung nahm auch Delhis Chefministerin Sheila Dikshit das Urteil mit sichtlicher Genugtuung auf. Sie begrüßte es, weil ihrer Meinung nach damit die Gerechtigkeit die Oberhand behalten habe. Sie erhoffe sich davon eine abschreckende Wirkung, fügte sie hinzu. Vor dem Gerichtsgebäude in Delhi-Saket hatten sich am Freitag viele Mitglieder der Protestbewegung versammelt, die im Dezember 2012 und noch Wochen danach die indische Hauptstadt erschütterte. Nun wollten sie nur eins: eine ihrer Hauptforderungen erfüllt sehen -- die Todesstrafe für die Verbrecher. Als das Urteil bekannt wurde, brandete Applaus auf, umarmte man sich, zeigten Tausende Hände das Victory-Zeichen.

Einer der Brüder von Jyoti Singh Pandey erklärte Journalisten, daß die Familie den Kampf fortsetzen wolle, den das Schicksal seiner Schwester initiiert hatte. »Wir wissen, sie wird nicht zurückkehren. Aber es befriedigt uns, daß diese Leute beseitigt werden. Das bringt uns etwas Frieden«, sagte er. Sucheta De von der Allindischen Studentenassoziation befürchtet, die Kampagne gegen sexuelle Gewalt würde nun abflauen: »Als wir protestierten, forderten wir 100 Prozent Gerechtigkeit für alle Mädchen und Frauen, die sexuell mißbraucht worden sind.« Hängen sei ein simpler Ausweg, löse aber das Problem nicht. Das Urteil kühle lediglich die erhitzten Gemüter ab, die Behörden demonstrierten damit, wie effektiv sie arbeiten. Doch die wirklichen Probleme blieben.

Rund 40 Prozent der indischen Bevölkerung sprechen sich für die Abschaffung der Todesstrafe aus. Tara Rao, die Direktorin von Amnesty International India, schätzte ein, daß die Todesstrafe kein Patentrezept und keine ausreichende Antwort auf Kapitalverbrechen sei. Das Urteil in diesem Fall stelle eine kurzfristige Revanche dar, beseitige aber nicht die Gewalt gegen Frauen. Meredith Alexander, Kampagnechefin der Nichtregierungsorganisation »Avaaz«, ist überzeugt davon, daß der Tod der vier Verbrecher die »Vergewaltigungskrise« in Indien nicht beenden kann. Dazu brauche es massive öffentliche Aufklärungs- und Erziehungsarbeit, denn die verbreitete Gewalt gegen Frauen – im Jahre 2012 insgesamt 25000 registrierte Fälle in Indien –, gegen Schwache und Minderheiten sei kein juristisches, sondern ein tief wurzelndes gesellschaftliches Problem, das in den Familien beginnt. »Die Gesellschaft muß verändert werden.« So lautet auch der Tenor der Meinungen vieler Studentenorganisationen. Die Todesurteile könnte die Sicherheit der Frauen nicht erhöhen. Ohnehin hätten die schrecklichen Geschehnisse in der Nacht des 16. Dezember 2012 nur die Kriminalität in den Metropolen beleuchtet. In den ländlichen Gebieten wage ein Vergewaltigungsopfer meistens nicht einmal, eine Anzeige bei der Polizei zu machen.

Die Anwälte der vier Verurteilten werden wohl bei höheren gerichtlichen Instanzen Berufung einlegen. Sie hoffen auf Umwandlung des Urteils in lebenslänglich oder Begnadigung durch das Staatsoberhaupt. Ein Prozeß, der sich gewöhnlich über Jahre hinzieht. In ­Indiens Gefängnissen warten 477 Todeskandidaten auf Vollstreckung des Urteils. Seit 2004 gab es drei Hinrichtungen, alle betrafen angebliche Terroristen, keine »gewöhnlichen« Gewalttäter. Von 1996 bis 2004 wurde keins der Todesurteile vollstreckt.

* Aus: junge welt, Dienstag, 17. September 2013


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