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"Nirbhaya" hat viele Schwestern

Ein Jahr nach der Gruppenvergewaltigung in Indien: Gewalt gegen Frauen bleibt ein brennendes Problem

Von Hilmar König, Delhi *

Ein Jahr nach der Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Physiotherapeutin in Delhi gehört Gewalt gegen Frauen nach wie vor zum indischen Alltag.

Am heutigen Montag gedenken viele Menschen des Verbrechens, das genau vor einem Jahr verübt wurde: »Nirbhaya« – aus rechtlichen Gründen ein fiktiver Name – wurde von vier Männern und einem Jugendlichen vergewaltigt und gefoltert. Sie starb zwei Wochen später an den Folgen schwerer innerer Verletzungen. Das Verbrechen löste eine Woge des Protestes aus. Die fünf Täter wurden verurteilt, das Problem bleibt jedoch aktuell.

Die 19-Jährige Sita – auch das ein fiktiver Name – lebt, aber auch sie ist Opfer eines grässlichen Verbrechens. Im September wurde sie von ihren Bossen vom Arbeitsplatz entführt, in einem Auto vergewaltigt und auf Eisenbahngleise geworfen. Ihr Tod sollte wohl wie Unfall oder Selbstmord erscheinen. Sita überlebte, doch sie verlor beide Beine. Die Polizei sah sich bisher nicht in der Lage, eine Anzeige aufzunehmen, die Regierung des Unionsstaates Rajasthan hat laut »The Hindu« noch keinen Finger für das Opfer gerührt.

Hat sich nach Nirbhayas Tod gar nichts geändert? Doch, das Parlament verabschiedete ein Gesetz, das nicht nur den Gewaltakt, sondern auch sexuelle Belästigung und Anzüglichkeiten unter Strafe stellt. Viele Männer haben das jedoch noch nicht begriffen. Erst jüngst lieferten zwei Fälle Schlagzeilen: Der Chefredakteur der Wochenzeitung »Tehelka« machte einer jungen Kollegin Avancen und wurde tätlich. Sie beschwerte sich. Er steht unter Anklage. Ein pensionierter Richter des Höchsten Gerichts versuchte sich angeblich in einem Hotel einer Praktikantin unsittlich zu nähern. Auch sie ging an die Öffentlichkeit. Obwohl der Mann alles abstreitet, wird der Fall untersucht. Neu daran ist, dass sich die Frauen nicht duckten, sondern aufbegehrten. Die Mehrzahl der Opfer erstattet wegen des sozialen Stigmas und der geringen Kooperationsbereitschaft der Beamten keine Anzeige.

Der Widerstand von Frauenrechtlern wächst. Gruppen wie die »Pink Saris«, die »Gulabi Gang« oder »Action Aid« lassen die Opfer zu Wort kommen und rücken Wiederholungstätern bisweilen gar mit Stöcken zu Leibe. Mitte voriger Woche bot »Action Aid« im Rahmen der Kampagne »Beti sindabad« (Lang lebe die Tochter) in Jaipur Frauen eine Tribüne, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren. Sita schilderte dort, was man ihr angetan hat.

Seit Nirbhayas Tod macht die Bürgergesellschaft immer entschiedener Front gegen Verbrechen an Frauen, gegen rückschrittliche Auffassungen und Entscheidungen. So vorige Woche gegen das Urteil des Höchsten Gerichts, das Homosexualität wieder unter Strafe stellt. Zwei Richter reaktivierten ein aus der britischen Kolonialzeit stammendes entsprechendes Gesetz, das 2006 außer Kraft gesetzt worden war. Die Höchsten Richter in Delhi aber fanden gegen alle Zeichen der Zeit »Geschlechtsverkehr gegen die Ordnung der Natur« wieder strafbar. Der Aufschrei nicht nur der 2,5 Millionen indischen Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgeschlechtlichen, sondern aller für Menschenrechte eintretenden Inder war so unüberhörbar, dass die Regierung Flagge zeigen musste und Maßnahmen gegen das regressive Gerichtsurteil ankündigte.

* Aus: neues deutschland, Montag, 16. Dezember 2013


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