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Indiens erstes Ja zur Quotenregelung für Frauen

Oberhaus stimmt "neuen politischen Spielregeln" zu

Von Henri Rudolph, Delhi *

Das Oberhaus des indischen Parlaments traf am Internationalen Frauentag nach kontroverser Debatte eine Entscheidung, die einen bedeutenden Schritt zur Gleichberechtigung der Inderinnen darstellt: Es stimmte für eine Verfassungsänderung, die vorsieht, dass künftig 33 Prozent der Sitze im Unterhaus und in den Volksvertretungen der Unionsstaaten für Frauen zu reservieren sind.

Seit 14 Jahren schmorte der Gesetzentwurf im traditionell von Männern beherrschten Parlament in Delhi. Immer wieder war er von Gegnern mit allen erdenklichen Mitteln sabotiert worden. Sie verstießen gegen die Geschäftsordnung des Parlaments, sorgten für chaotische Zustände, die Abstimmungen unmöglich machten, zerrissen demonstrativ Kopien des Gesetzentwurfs und drohten sogar mit Selbstmord. Akzeptieren wollten sie allenfalls eine Reservierung von Sitzen für weibliche Angehörige niederer Kasten, registrierter Stämme der Ureinwohner, der sogenannten Anderen Rückständigen Klassen sowie für sozial schwache Musliminnen.

Lalu Prasad Yadav, Chef der Partei Rashtriya Janata Dal und erbitterter Gegner der Verfassungsänderung, erklärte noch kurz vor der Abstimmung am Montag: »Warum nur 33 Prozent? Ich bin für eine Frauenquote von 50 Prozent. Aber man kann die Interessen der Frauen aus den schwachen sozialen Schichten nicht ignorieren … Der vorliegende Gesetzentwurf dient nur den Eliteklassen.« Auch wenn sich diese Argumente nicht vom Tisch wischen lassen, stellt der vorliegende Entwurf doch einen enormen Fortschritt dar. Wenn er die nächste Hürde im Unterhaus nimmt und in Kraft tritt, dann erhöht sich die Zahl weiblicher Abgeordneter im Unterhaus des Zentralparlaments von derzeit 59 auf 181. Insgesamt haben dort 545 Volksvertreter Sitz und Stimme.

Zoya Hassan, Professorin an der Jawaharlal-Nehru-Universität, be-wertete die Billigung der Verfassungsnovelle als »ganz wichtigen Schritt zur Stärkung der Frauenrechte« Die politischen Spielregeln in Indien würden dadurch auf nie da gewesene Art verändert. Nachbesserungen, argumentieren die Befürworter, könnten immer noch vorgenommen werden. Die Chancen für eine deutlich stärkere Mitsprache von Frauen bei politischen Entscheidungen, ihre Beteiligung am sozialen und wirtschaftlichen Leben, bei der Durchsetzung ihrer Interessen und der Gleichberechtigung würden beträchtlich erhöht. Das alles wird in Indien unter dem Begriff »Empowerment« zusammengefasst.

Dass das Oberhaus die Verfassungsänderung diesmal trotz des lautstarken Widerstands der Gegner billigte, lag an der Einigkeit der stärksten politischen Parteien. Die Kongresspartei und ihre Partner in der regierenden Vereinten Progressiven Allianz, die sonst scharf oppositionelle Indische Volkspartei (BJP), alle linken Parteien und etliche Regionalparteien zogen in diesem Fall an einem Strang. Das sicherte die notwendige Zweidrittelmehrheit im Oberhaus. »Komplettes Frauen- Empowerment ist nur möglich durch politisches Empowerment«, begründete Sushma Swaraj von der BJP die Zustimmung ihrer Partei. Brinda Karat, Politbüromitglied der KPI (Marxistisch), sprach von einer lange überfälligen Entscheidung, für die sich die Linken von Anfang an ausgesprochen hatten.

Indiens Premierminister Manmohan Singh (Kongresspartei) hatte am Sonnabend eine Konferenz zur Stärkung der Frauenrechte in den ländlichen Gebieten eröffnet. Obwohl bezüglich der Gleichberechtigung im täglichen Leben gerade auf dem Lande dort noch erheblicher Nachholbedarf besteht, bewährte sich die vor Jahren eingeführte Frauenquote von 33 Prozent in den Panchayaten (Gemeinderäten) derart, dass kürzlich beschlossen wurde, diese Quote auf 50 Prozent zu erhöhen. Laut Einschätzungen aus fast allen politischen Lagern wurde mit der Quotenregelung landesweit die Demokratie tiefer verwurzelt. Der Premier verwies in seiner Ansprache bedauernd auf eine Reihe von Problemen, unter denen vor allem die Frauen leiden: eine niedrige Alphabetenrate, eine der höchsten Raten der Müttersterblichkeit in der Welt, verbreitete Gewalt gegen Frauen, ein erschreckender Geschlechterproporz zu Ungunsten der Frauen und geringe Beteiligung am Arbeitsmarkt.

Die Parlamentsvorsitzende Meira Kumar nannte auf der gleichen Veranstaltung Aufgaben zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Inderinnen: Man müsse deren Schulbildung fördern, die Gesundheitsbetreuung intensivieren, Berufsausbildung und Beschäftigung ermöglichen. Unter Beifall rief sie aus: »Der Traum vom entwickelten Indien bleibt unerfüllt, wenn die Frauen, besonders in den ländlichen Gebieten, nicht befähigt werden, ihr Potenzial zu entwickeln und zu nutzen.«

Die indischen Oberhausabgeordneten unternahmen am Frauentag einen ersten wesentlichen Schritt in diese Richtung.

* Aus: Neues Deutschland, 9. März 2010


Entscheidung am Frauentag

Oberhaus in Neu-Delhi ändert Verfassung und reserviert Inderinnen ein Drittel der Parlamentssitze

Von Ashok Rajput, Neu Delhi **


Während weltweit am Montag der Internationale Frauentag begangen wurde, haben die Abgeordneten im Oberhaus des indischen Parlaments trotz einer turbulenten und kontroversen Debatte mehrheitlich für eine Quotenregelung in der Verfassung gestimmt. Sie soll künftig Inderinnen 33 Prozent der Abgeordnetensitze im Unterhaus und in den Parlamenten der Bundesstaaten sichern. Obwohl Indien eine Staatspräsidentin, mehrere weibliche Chefministerinnen in den Bundesstaaten, Meira Kumar als Parlamentssprecherin, Sonia Gandhi als Vorsitzende der ältesten Partei des Landes, Richterinnen, Pilotinnen, Ministerinnen und Polizistinnen hat, waren Frauen in den Volksvertretungen mehr als 60 Jahre lang hoffnungslos unterrepräsentiert. Unter 545 Parlamentariern sitzen im Unterhaus lediglich 59 Frauen auf den Abgeordnetenbänken. Damit sich das ändert, muß auch das Unterhaus dem neuen Gesetz zur Quotenregelung zustimmen. Erst danach kann es in Kraft treten, und erst dann würde sich die Zahl weiblicher Abgeordneter auf 181 im Unterhaus des Zentralparlaments erhöhen.

14 lange Jahre war es den Gegnern einer solchen Verfassungsänderung immer wieder gelungen, sie zu sabotieren und sogar Debatten darüber zu verhindern. Einigen war sie zu radikal, anderen zu weich und zu unvollständig. Letztere forderten eine besondere Berücksichtigung weiblicher Angehöriger niederer Kasten, registrierter Stämme der Ureinwohner, der sogenannten anderen rückständigen Klassen (OBC) sowie armer Musliminnen. Für diese verlangten sie eine Quote innerhalb der 33-Prozent-Regelung. Der vorliegende Gesetzentwurf, so argumentierten sie, diene nur der weiblichen Elite aus der Mittelschicht und Oberklasse. Trotzdem ist der Gesetzentwurf in seiner jetzigen Fassung zweifellos ein Fortschritt. Damit würden die politischen Spielregeln in Indien auf nie dagewesene Art verändert, ist sich Zoya Hassan, Professorin an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi, sicher.

Das Oberhaus segnete diesmal trotz der Querelen und Störungen seitens der Verweigerer die Verfassungsänderung ab. Da sich alle politischen Hauptparteien einig waren, kam die erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande. Die Kongreßpartei samt Partnern in der regierenden Vereinten Progressiven Allianz, die eigentlich oppositionelle Indische Volkspartei (BJP) sowie alle linken und die meisten Regionalparteien stimmten zu.

Mit dieser Entscheidung sind die unzähligen Probleme der Inderinnen freilich nicht aus der Welt. Premier Manmohan Singh hatte einige davon in der vorigen Woche auf einer Konferenz zum Empowerment der Frauen in den ländlichen Gebieten angesprochen. Darunter die niedrige Alphabetenrate, eine der höchsten Müttersterblichkeiten in der Welt, verbreitete Gewalt gegen Frauen, einen erschreckenden Geschlechterproporz zuungunsten der Frauen und deren geringer Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch Parlamentssprecherin Meira Kumar erklärte auf der gleichen Veranstaltung: »Der Traum vom entwickelten Indien bleibt unerfüllt, wenn die Frauen, besonders in den ländlichen Gebieten, nicht befähigt werden, ihr Potential zu entwickeln und zu nutzen.«

Auf positive Erfahrungen mit der vor Jahren eingeführten Frauenquote von 33 Prozent in den Panchayaten (Gemeinderäten) kann auf dem Land zurückgegriffen werden. Sie soll nun sogar auf 50 Prozent erhöht werden. Diese Quotenregelung, so ist aus nahezu allen politischen Lagern zu hören, habe landesweit die Demokratie gestärkt. Gute Aussichten also für das erwartete neue Gesetz.

** Aus: junge Welt, 9. März 2010

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