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"Frauen tragen die Hauptlast"

Netzwerk unterstützt Überlebende der Gewalt im indischen Manipur

Von Stefan Mentschel, Delhi *

Im indischen Nordosten tobt seit Jahrzehnten ein blutiger Konflikt. Auch wenn vor allem junge Männer sterben, haben Frauen die Folgen zu tragen. Denn der Tod eines männlichen Familienmitglieds bedeutet oftmals auch den Verlust des Lebensunterhalts. Seit ein paar Jahren kümmert sich ein Überlebenden-Netzwerk um Mütter und Witwen.

Mehr als elf Jahre ist es her, doch der Schmerz ist geblieben. Wenn Sinam Chandrajini an jenen Donnerstag im November 2000 zurückdenkt, steigen ihr auch heute noch die Tränen in die Augen. Am Morgen hatten ihren beiden Söhne - damals 17 und 27 Jahre alt - das kleine Haus in der Gemeinde Malom verlassen, um ins nahe gelegene Imphal zu fahren, die Hauptstadt des Bundesstaates Manipur im Nordosten Indiens.

Als sie an der Hauptstraße auf den Bus warten, gibt es plötzlich ganz in der Nähe eine Explosion. Rebellen, die in Manipur seit Jahrzehnten gegen die indische Staatsmacht kämpfen, haben einen Militärkonvoi ins Visier genommen. Aber die Bombe verfehlt ihr Ziel. An der Haltestelle stoppen die Fahrzeuge und Soldaten beginnen ihre Wut über den Anschlag mit Beschimpfungen und Schlägen an den Wartenden auszulassen. Als Passanten eingreifen, eskaliert die Situation. Schüsse fallen und wenig später sind zehn unschuldige Menschen tot, darunter die Söhne von Sinam Chandrajini.

Mehr als ein halbes Jahrhundert dauert die Gewalt in Manipur schon an. Dutzende bewaffnete Gruppen sind aktiv. Die großen kämpfen für die Unabhängigkeit des früheren Königreichs von Indien, in dem heute 2,3 Millionen Menschen ganz unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit leben. Kleinere streiten für mehr Selbstbestimmung einzelner Regionen und Volksgruppen.

Zehntausende Sicherheitskräfte sollen die fragile Lage unter Kontrolle halten. Doch immer wieder werden sie wie in Malom zu einem Teil des Problems. Unabhängige Beobachter gehen davon aus, dass der vielschichtige Konflikt in Manipur bislang mehr als 20 000 Menschenleben gefordert hat.

»Die meisten der Opfer sind junge Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren«, weiß die Menschenrechtlerin Binalakshmi Nepram. »Doch Frauen tragen die Hauptlast.« Der Konflikt hinterlasse alljährlich bis zu 300 traumatisierte Mütter und junge Witwen mit kleinen Kindern, die neben dem Schmerz auch massive wirtschaftliche Konsequenzen zu tragen hätten. »Denn der Tod eines männlichen Angehörigen geht in diesem Teil der Welt fast immer mit dem Verlust des Familieneinkommens einher.«

Nepram ist in Imphal im Schatten der Gewalt aufgewachsen. Die 37-Jährige weiß, welche tiefen Wunden der Konflikt reißen kann. Ende 2004 entschließt sie sich, etwas dagegen zu tun und beginnt ein Netzwerk für überlebende Frauen aufzubauen, das »Manipur Women Gun Survivors Network«. Eines der Ziele: Frauen sollen in die Lage versetzt werden, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Oftmals genügt eine kleine Anschubfinanzierung, um die Sache ins Rollen zu bringen«, berichtet Netzwerk-Koordinatorin Reena Mutum. Umgerechnet 100 Euro seien das im Durchschnitt, die fast ausschließlich aus Spenden finanziert würden. »Mit Hilfe dieser Einmalzahlung können die Frauen das Rohmaterial für die Herstellung von traditionellen Sarongs, Tüchern und Schals beschaffen und diese dann gewinnbringend verkaufen.« Andere betrieben Landwirtschaft oder einen kleinen Handel. »Die Frauen entscheiden selbst, was sie tun möchten und wie wir ihnen helfen können.«

Sinam Chandrajini, Netzwerk-Mitglied der ersten Stunde, lebt inzwischen von der Seidenspinnerei. »Ich kaufe Kokons und wickele den Faden auf«, erzählt sie. Das Spinnrad dafür habe sie aus einer Zuwendung des Netzwerks finanziert. »Mit dieser Arbeit verdiene ich nicht viel, aber immerhin genug, um zu überleben.«

Der 50-jährigen Geeta Huidrom hat das Netzwerk neben der finanziellen Unterstützung auch einen wichtigen emotionalen Rückhalt gegeben. »Nach dem Tod meines Mannes waren meine Tochter und ich mit dem Schmerz allein.« Der Karatelehrer war vor zehn Jahren unter noch immer ungeklärten Umständen mitten in Imphal von einem Polizisten erschossen worden. »Wir haben lang still gelitten und uns zurückgezogen«, sagt sie. Erst die Gespräche mit anderen Betroffenen hätten ihr Kraft und neuen Lebensmut gegeben.

»Als Geeta zum ersten Mal zu uns kam, war sie eine gebrochene Frau«, erinnert sich Mutum. »Heute jedoch gehört sie zu den tragenden Säulen unseres Netzwerks. Sie hilft neuen Mitgliedern über die ersten schweren Monate hinweg und steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite.« Für viele sei sie ein Vorbild, dann inzwischen habe Geeta sogar einen kleinen Laden eröffnet, in dem sie die von ihr und ihrer Tochter bestickten Sarongs und Tücher verkauft.

Insgesamt haben sich bislang 120 Frauen aus ganz Manipur dem Überlebenden-Netzwerk angeschlossen. »Alle sind in der Lage, durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt zu sichern«, sagt Reena Mutum. »Wir würden gern noch mehr Betroffene unterstützen, aber uns sind finanzielle Grenzen gesetzt«, bedauert sie.

Um von Spenden unabhängig zu werden, will sich die Initiative daher langfristig durch die Produktion und den Verkauf von traditionellen Textilien selbst finanzieren. Denn solange der Konflikt in Manipur nicht gelöst sei, bleibe den Frauen keine andere Wahl, als das Überleben selbst in die Hand zu nehmen, ist Mutum überzeugt.

* Aus: neues deutschland, 28. Februar 2012


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