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Unterwegs in "Gandhi-Land"

Wie Muslime und Hindus ihr Viertel in Ahmedabad gemeinsam verteidigten

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Lala Bhai kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das scheint heute ein guter Tag zu werden. Gerade hat er mit dem ausländischen Journalisten den Preis für die Tour mit der Autorikscha ausgehandelt. Für die knapp zehn Kilometer von Trapaj nach Alang wird der Kunde 200 Rupien zahlen (etwa vier Euro) – unter einer Bedingung: Wann immer der Reporter fotografieren oder sich mit Leuten unterwegs unterhalten will, muß Lala Bhai sein dreirädriges Gefährt stoppen.

Die Fahrt beginnt. Zur Verabschiedung grüßt uns der lachende Narendra Modi von einem hinter der Bushaltestelle aufgestellten riesigen farbigen Poster. Er ist der Chefminister des westindischen Bundesstaates Gujarat, in dessen Süden wir uns befinden. Gujarat wird von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei – Bharatiya Janata Party – regiert. Modi ist ein Politiker, der vor ein paar Jahren eine ziemlich üble Rolle spielte: Ihm wird vorgeworfen, nichts gegen die Drathzieher des von einem hinduistischen Mob verübten Massakers an Muslimen unternommen zu haben.

Zielscheibe der Gewalt

Auf dem Bahnhof von Godhra war aus bis heute nicht eindeutig geklärter Ursache ein Waggon des Sabarmati-Expresses in Flammen aufgegangen. 59 Hindus kamen dabei ums Leben. Die »Schuldigen« dafür waren schnell gefunden – Angehörige der muslimischen Minderheit. Im Handumdrehen wurden sie überall in Gujarat zur Zielscheibe schrecklicher Gewalt. Über 1000 Menschen wurden umgebracht, unzählige vertrieben, ihre Geschäfte, Werkstätten, Hotels, Wohnungen in Brand gesetzt. Modis Regierung reagierte zunächst gar nicht, gab dann Erklärungen ab, man müsse Verständnis haben für die Wut der Mörder, bagatellisierte die Gewalttätigkeiten und stellte sich später bei den Gerichtsverfahren schützend vor die Täter. Der Chefminister wurde daraufhin in einigen Ländern Europas zur unerwünschten Person erklärt, von der Hindu-Mehrheit bei den folgenden Wahlen jedoch in seinem Amt bestätigt. Die Wunden aus jenen Tagen des Jahres 2001 sind bis heute nicht geheilt.

Der 18 Jahre alte Lala Bhai will von all dem nichts wissen. »Ich lebe hier in der Provinz. Wir haben andere Sorgen. Meine Rikscha ist gemietet, und mit den paar Rupien, die ich am Ende eines Tages nach Hause bringe, müssen meine Eltern und vier Geschwister auskommen«, erzählt er, sich hin und wieder zu mir umdrehend. Zunächst zuckeln wir an Zwiebel- und Baumwollfeldern vorbei. In der ersten Ortschaft, die wir passieren, liegen großflächig ausgebreitet rote Chilischoten zum Trocknen in der brennenden Sonne. »Die sind ebenso wie unsere herrlichen Mangos überall in Indien begehrt«, erklärt mein Chauffeur. Rund 21 Prozent der 196024 Quadratkilometer großen Fläche Gujarats werden landwirtschaftlich genutzt, hauptsächlich für den Anbau von verschiedenen Hirsearten sowie Weizen, Baumwolle, Tabak und Erdnüssen. Auf industriellem Gebiet hat es sich bei der Herstellung von Textilien, chemischen und Erdölprodukten, Arzneimitteln, Zement sowie im Sektor Maschinenbau und Elektronik einen Namen gemacht – und seine Küste ist bekannt als riesiger Abwrackplatz für Schiffe.

Alang, unser Reiseziel, ist der größte Schiffsfriedhof der Welt. Die staatliche Maritimbehörde Gujarats (GMB) begann hier im Jahre 1983, die ersten von mittlerweile 185 Strandabschnitten an private Firmen zu verpachten. Seitdem werfen dort ausgediente Fähren, Kriegsschiffe, Ölbohrplattformen, Containerfrachter, Supertanker und Passagierdampfer aus aller Herren Länder zum letzen Mal Anker, ehe sie ausgeschlachtet und anschließend zerlegt werden. In der Blütezeit dieses Industriezweigs zwischen 1994 und 2003 nahm ein Heer von 48000 Arbeitern unter unsäglichen Bedingungen etwa die Hälfte aller weltweit zu verschrottenden Schiffe in Alang auseinander. Das brachte den Abwrackfirmen einen Jahresumsatz von durchschnittlich 500 Millionen Dollar. Über hundert Werkstätten zur Herstellung von Industriegasen fürs Schweißen, dazu 3000 kleine Zulieferbetriebe entstanden, und rund 500 Shops verkauften Schiffsgut.

Abwrackkandidaten

Schon vor der Affäre mit dem asbestverseuchten französischen Flugzeugträger »Clémenceau« im Frühjahr – Greenpeace erzwang seine Umkehr – geriet der indische Schiffsfriedhof jedoch in die Krise. Dazu trug eine Vielzahl von Gründen bei: das wegen mangelhafter Arbeits-, Sicherheits- und Umweltstandards schlechte Image, die starke Konkurrenz Chinas, Pakistans und Bangladeschs und die relativ hohen Hafengebühren und Importzölle Indiens. So reduzierte sich die Zahl der meist aus den ärmsten Gebieten Indiens kommenden Arbeiter auf nur noch 4000 und die der einlaufenden Abwrackkandidaten von über 300 Mitte der 1990er Jahre auf jetzt jährlich 50 Schiffe.

Kurz vor Alang zieht ein Schild am Straßenrand die Aufmerksamkeit auf sich. Sein Text kann nur ironisch gemeint sein: »Sicherheit ist unser Motto. Willkommen in Alang«. Beides beißt sich mit der Wirklichkeit. 2005 kamen hier 16 Menschen bei Arbeitsunfällen ums Leben. Im Jahr davor waren es 30. Im Bundesstaat Orissa gibt es ein »Dorf der Witwen und Behinderten« – ihr Schicksal ist verknüpft mit Alang. Und von einem Willkommen kann auch keine Rede sein. Die Rikschafahrt endet vorläufig am Kontrollpunkt der Maritimbehörde. Der Beamte in blauer Uniform mustert den Fremden und reicht ihm dann ein Informationsblatt: Zutritt für ausländische Besucher 25 Dollar und Erlaubnis für Filmen oder Fotografieren nochmals 25 Dollar. Und das auch nur, wenn man sich vorher in der Landeshauptstadt Gandhinagar eine GMB-Erlaubnis besorgt hat. Deren Ausstellung kann bis zu einem Monat dauern, verrät der Beamte. Also bleibt als Trost nur der Besuch in einigen der Shops, die alle außerhalb der Sperrzone liegen. Lala Bhai ist zufrieden, erhöht sich doch damit sein Gewinn.

Die Verkäufer an der mehrere Kilometer langen Ladenstraße geben sich optimistisch. »Noch sind unsere Lager voll. Von der Krise spüren wir bislang nichts.« So jedenfalls der Tenor ihrer Sprüche. Und tatsächlich verblüfft das Angebot. Es reicht von Kombüseneinrichtungen, Kühlschränken, Möbeln, Geschirr, Wasch- und Toilettenbecken über Schreibmaschinen, Fernseher, Ventilatoren, Leuchtröhren, Radios und Computern bis zu schwerer Schiffstechnik, Werkzeugen aller Art, Seilwinden, riesigen Dieselaggregaten, Bojen, Rettungsringen und -booten, Flaschenzügen, Kabeln, Türen, Balken, Tonnen, Kisten, Ketten, Laternen und Tauen. Wenigstens auf diesem einzigartigen »Schiffsgutbasar« ist der Besucher willkommen.

Für die Fahrt ins etwa 300 Kilometer entfernte Ahmedabad, die Metropole Gujarats, bringt mich Lala Bhai bis zur Bushaltestelle. Daß er mit dem Geschäft mehr als zufrieden ist, dokumentiert er, indem er eine eiskalte Limonade spendiert. »Das dürfen Sie mir nicht abschlagen«, meint er, »denn ich möchte, daß Sie mich in guter Erinnerung behalten.« Also dann: prost, Lala Bhai.

In Ahmedabad steht ein Besuch im Gandhi-Sabarmati-Aschram auf dem Programm, einer Forschungsstätte, die das Andenken des Mahatma, des »Vaters der Nation«, pflegt. In der Museumsabteilung Fotos, Gemälde, Dokumente aus der Zeit des Widerstands gegen die britischen Kolonialherren, Bücher von Gandhi sowie über sein Wirken, seine Rolle und Bedeutung im nationalen Befreiungskampf. Der 73 Jahre alte Aschram-Direktor Amrut Bhai Modi, seit 1955 im Amt, ist ein echter Gandhianer, beseelt von der Philosophie des Mahatma, der Gewaltlosigkeit, dem zivilen Ungehorsam, dem Respekt für alle Religionsgemeinschaften, der sozialen Gerechtigkeit, der Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht und Rasse.

Amrut Bhai Modi konstatiert in jüngster Zeit zunehmende Besucherzahlen, etwa 1000 am Tag, darunter auffällig viele Touristen aus Frankreich, Japan, Australien, Deutschland, England und den USA. Ob das etwas mit der Suche nach Alternativen zur imperialistischen Gewaltpolitik, mit Irak oder Afghanistan zu tun hat? Der Direktor will keine politischen Aussagen machen und weicht aus: Die Gäste interessierten sich für Gandhi als politischem Führer, für dessen Spiritualität, Philosophie und Ansichten zu sozialen Problemen. Immerhin kommt auch diese Aussage von Modi: »Gandhisches Denken ist heute sehr relevant. Es klafft eine große Lücke zwischen Sagen und Handeln der Politiker. Der Mahatma verkörperte genau das Gegenteil und legte stets Wert auf Wahrhaftigkeit. Damit vermochte er die Menschen zu inspirieren, über alle Schranken hinweg zu gemeinsamem Tun zu veranlassen.«

Gandhis Botschaft wird in einem Stadtteil Ahmedabads, in Ram-Rahim-Nagar, besonders ernsthaft befolgt. In diesem Viertel wohnen etwas mehr als 60 Prozent Muslime und etwas mehr als 30 Prozent Hindus. Schon der Name – Gott nennen die Hindus Ram und die Muslime Rahim – offenbart, daß die Uhren hier anders ticken. Keine Spur von Spannungen, Feindschaft oder Haß im Zusammenleben der Bürger. Seit 1973 regelt das Bürgerkomitee »Zumpadawasi Mandal« alle Angelegenheiten. Paritätisch besetzt, gehören ihm 21 Mitglieder an. Der Vorsitz wechselt jedes Jahr, mal hat ihn ein Muslim, mal ein Hindu inne.

In ihrem kleinen Büro erzählen die Komiteemitglieder Sheikh Karamatbhai Mohammed Hussein und Natwar Lal Bhikabhai Rawat, wie sie während der Godhra-Ereignisse ihre größte Bewährungsprobe zu bestehen hatten. Jugendliche des Viertels patrouillierten in Gruppen durch die Straßen und kontrollierten alle Zugänge zum Wohngebiet. Fremde erhielten keinen Zutritt. Gerüchtemachern trat man entschlossen entgegen. Politische Agitation, Parteien, Wahlpropaganda sind in Ram-Rahim-Nagar ohnehin verboten. »No politics«, bekräftigen beide Gesprächspartner fast im Chor. Das Resultat war großartig: Während brandschatzender und mordender Mob durch andere Viertel Ahmedabads zog, blieb in Ram-Rahim-Nagar alles ruhig, gab es nicht einen einzigen Zwischenfall. Der Mahatma, der ja aus Gujarat stammte und in der Hafenstadt Porbandar im heutigen Bundesstaat Gujarat geboren wurde, hätte seine Freude an diesem Beispiel gehabt.

Dennoch, bekannter als durch Ram-Rahim-Nagar ist Ahmedabad im In- und Ausland durch das Indian Institute of Management (IIM-A), das Führungspersönlichkeiten für Konzerne in aller Welt ausbildet. Zahlreiche Busineßschulen und sechs autonome Institute für Management gibt es in Indien. Die Nachfrage nach ihren Absolventen ist enorm. Das muß der Pressesprecher des 1961 gegründeten IIM-A gar nicht betonen. Doch er erwähnt, daß man hier die »härtesten Aufnahmetests« zu bestehen hat, wenn man aus der Schar der durchschnittlich 150000 Bewerber einen der 250 Studienplätze ergattern will. Am Ende des Studiums winkt in der Regel ein lukrativer Posten in einem indischen oder ausländischen Großunternehmen.

Manager-»Kopfjäger«

Jedes Frühjahr kommen die »Rekrutierer«, wie sie offiziell heißen, ans IIM-A und an die anderen Managementkaderschmieden Indiens, um die »Creme« abzusahnen. Eine Woche lang bieten sie im sogenannten Plazierungsprozeß Posten mit enormen Jahresgehältern an und ködern die besten Aspiranten. Unter den »Kopfjägern« von 95 Firmen befanden sich Adobe, Barclays, Credit Suiss First Boston, Deutsche Bank, eBay, Morgan Stanley und Reebok. Sie unterbreiteten den 235 Teilnehmern 510 Angebote. Allein die Investmentbank Barclays rekrutierte 16 Absolventen, drei davon mit Jahresgehältern von 185000 Dollar. Das höchste Angebot eines indischen Konzerns belief sich auf 3,4 Millionen Rupien, umgerechnet etwa 68000 Euro.

Gründe für die Attraktivität der Institute sieht der Pressesprecher darin, daß man viel Wert auf Erziehung zum Teamgeist sowie auf im Ausland gesammelte Erfahrungen lege, wozu ein mehrmonatiges Praktikum in Übersee gehört. Die Bandbreite der Ausbildung sei außergewöhnlich. Die Studenten würden umfassend für eine Leitungskarriere auch auf Gebieten wie Landwirtschaft, Gesundheit, Bildung oder auch in Nichtregierungsorganisationen vorbereitet. Die Absolventen eigneten sich zudem bestens, neue Geschäfte anzukurbeln, innovativ und schöpferisch zu leiten. Was der Pressesprecher natürlich nicht für erwähnenswert hält: Von der »Creme der Managementtalente« haben die Abermillionen unter der Armutsgrenze lebenden Inder ebenso wenig Nutzen wie die sozial Benachteiligten in Gujarat, zu denen auch der Autorikschafahrer Lala Bhai gehört.

* Aus: junge Welt, 22. Juli 2006

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