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Indische Gigantomanie

Kanalsystem als ökologisches Hasardspiel: Politiker setzen umstrittenes Megaprojekt zur Vernetzung großer Flüsse wieder auf die Tagesordnung

Von Thomas Berger *

Während die umstrittenen Megastaudämme am Narmada und Ganges in aller Munde sind, nimmt vom größten Wasserprojekt Indiens im Ausland kaum einer Notiz. Selbst im Inland wird selten darüber gesprochen oder geschrieben. So griffen indische Zeitungen eher beiläufig auf, daß der parlamentarische Ausschuß für Wasserfragen in seinem jüngsten Bericht die Regierung auffordert, mit Gesetzesänderungen eine schnellere Umsetzung des River-Interlinking-Projektes zu forcieren. Der Zentrale müßte in wichtigen Fragen mehr Entscheidungskompetenz gegenüber den einzelnen Unionsstaaten eingeräumt werden, so die Forderung der Abgeordneten.

Belächelte Idee

Mit dem Bericht wird ein Projekt wiederbelebt, das als Papiertiger in den Schubladen verschwunden schien. Von dort hatte man es in den siebziger Jahren erstmals hervorgezaubert. Zunächst 1972 und dann noch einmal 1977 hatten die Initiatoren Pläne vorgelegt, Indiens Flüsse mittels eines ausgeklügelten Kanalsystems zu vernetzen. Seinerzeit mutete dies als Phantasterei an. Eine Umsetzung mit den damaligen finanziellen Ressourcen und technischen Möglichkeiten hätte beinahe ein halbes Jahrhundert in Anspruch genommen. Die Idee wurde belächelt und verschwand in den Aktenschränken, von wo es kurz nach der Jahrtausendwende wieder hervorgeholt wurde.

Es war die Zeit, da in Neu-Delhi die rechte Nationale Demokratische Allianz (NDA) unter Führung der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) herrschte. Sowohl der damalige Premier Atal Behari Vajpayee als auch etliche seiner Berater zeigten sich dem Projekt gegenüber sehr aufgeschlossen, da sich eine Umsetzung inzwischen binnen Zehnjahresfrist machen lassen würde. Eine Expertengruppe nahm sich des drei Jahrzehnte alten Papiers an, stellte einige Kleinigkeiten um und empfahl der Politik 2003 die Umsetzung, um der sich verschärfenden Wasserkrise im Land zu begegnen.

Neuer Anlauf

Der Machtwechsel im Mai 2004 verhinderte dies. Die neue Mitte-links-Koalition unter Führung der Kongreßpartei (INC) des Premiers Manmohan Singh legte die Pläne auf Eis. Nicht offiziell per Beschluß – das Thema wurde zunächst einfach nicht weiter verfolgt. Vor allem die zahlreichen Gegner des Megavorhabens konnten aufatmen. Doch mit dem aktuellen Vorstoß des Wasserausschusses zeigt sich deutlich, daß das Projekt keineswegs ad acta gelegt wurde.

30 Kanäle sind geplant, davon 16 im südlichen Teil des Subkontinents und weitere 14 im sogenannten Himalaya-Bereich, also vor allem rund um den Ganges. 9600 Kilometer würden die neuen Verbindungen lang sein, die insgesamt 173 Milliarden Kubikmeter Wasser umleiten sollen. In seiner Gesamtheit geht das Projekt damit sogar über Chinas Drei-Schluchten-Staudamm hinaus. Doch das schreckt nur wenige, vor allem nicht in politischen Kreisen. Das Wochenmagazin India Today erhielt über alle Parteigrenzen hinweg nur Zuspruch für das fragwürdige Projekt.

Gleichwohl hatte die neue Regierung zunächst die Finger davon gelassen. Das mag an den immensen Kosten liegen: Umgerechnet 100 bis 120 Milliarden Euro sind für die Umsetzung veranschlagt – beinahe das Zehnfachen dessen, was Indien seit der Unabhängigkeit für alle Wasserprojekte im Land ausgegeben hat. Ein finanzieller Brocken, den Singh & Co. wegen anderer Prioritäten zumindest bei ihrem Amtsantritt nicht zu schlucken bereit waren.

Nun aber macht der Wasserausschuß Druck und beruft sich zudem auf ein Urteil des Obersten Gerichtes, das eine Umsetzung der Pläne bis spätestens 2016 vorsieht. Sollte dieser Zeitplan klappen, müßte sich die Regierung beeilen: Erst für einen der 30 Kanäle ist eine konkrete Machbarkeitsstudie in Arbeit, die übrigen Einzelprojekte befinden sich höchstens im Stadium der ersten Vorplanungen. Vor allem aber hat es noch keinerlei offizielle Verhandlungen mit den Nachbarstaaten Nepal, Bhutan und Bangladesch gegeben, die eigentlich für eine geordnete Implementierung unerläßlich wären. Allerdings ist gerade Nepal mittlerweile in negativer Weise daran gewöhnt, daß Indien auch große Dämme in Grenznähe ohne Konsultation der Nachbarn oder erst recht ihre Zustimmung baut.

Risiken unabsehbar

Im Norden des Landes würde das Mammutprojekt vor allem Wasser aus dem verzweigten Ganges-Brahmaputra-System ableiten. Was das konkret bedeutet, ist ebenso wie die ökologischen Folgen an anderen Stellen völlig unklar. Selbst Laien dürfte aber klar sein, daß angesichts eines schon jetzt teilweise dramatischen Rückgangs im Wasserstand des Ganges eine weitere Verringerung im Unterlauf große Probleme für Menschen und Natur dort nach sich ziehen dürfte.

Fast eine halbe Million Menschen wären von Zwangsumsiedlung bedroht – eine Zahl, die selbst die Katastrophe in den Schatten stellt, die sich seit Jahren um den Sardar-Sarowar-Damm am Narmada abspielt. Dort ist es bisher nicht einmal gelungen, die meisten der rund 300000 Vertriebenen angemessen zu rehabilitieren, also gemäß den eigenen Vorgaben staatlicher Stellen und Gerichte mit nutzbaren neuen Landflüchen zu versorgen. Ganz abgesehen von der Entwurzelung insbesondere der betroffenen Adivasis (Ureinwohner), schlagen sich viele Familien mehr schlecht als recht in nahegelegenen Großstädten durch.

Woher das Geld für die eigentlichen Bauvorhaben kommen soll, ist vollkommen unklar. Nicht einmal die Vorgängeradministration hatte bei allem Enthusiasmus dazu konkrete Überlegungen angestellt. Eine Refinanzierung der Ausgaben, die zumindest zum Teil mittels Krediten abgedeckt werden müßten, würde zu einer drohenden Privatisierung der Wasserversorgung in einzelnen Bereichen führen. Dieser Trend hat schon an anderen Stellen im Land Probleme verursacht. Zudem sind langfristige Auswirkungen auf das Ökosystem unkalkulierbar.

* Aus: junge Welt, 22. November 2008


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