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Mutter Ganga in Nöten

Indiens größter Strom ist Heiligtum, aber auch Kloake der Nation

Von Hilmar König *

Mit neuen Ideen und viel Geld rückt Indien der Verschmutzung seines heiligsten Stromes zu Leibe. Oberpriester und Umweltaktivist Veer Bhadra Mishra hat für sein Bioreinigungsprojekt endlich Gehör gefunden.

Nacht liegt über dem Dasashwameda Ghat am Ufer des Ganges in Varanasi. Zeit für die »Ganga Mahaarti«, das religiös-kulturelle Programm zur Verehrung der Mutter Ganga, des heiligsten aller Flüsse Indiens. Voller Erwartung eine große Schar ausländischer Zuschauer und hinduistischer Pilger auf den Badestufen, den Ghats, die zum Fluss hinab führen, und auf ungezählten Booten, umgeben von flackernden Lichtern, die in kleinen Blätterschalen im Wasser treiben. Sieben Jünglinge betreten eine Bühne und beginnen die »Show«: Sie schwingen Räuchertöpfe, lassen Leuchter mit Öllämpchen kreisen, heben und senken im Takt große Büschel aus Riedgras. Zum Finale des einstündigen Opfer- und Reinigungsrituals verschaffen sich Muschelhörner Gehör. Schließlich gewinnt rasender Trommelschlag die Oberhand. »Jai Ganga Mata ki«, jubelt die Menge fast ekstatisch: »Es lebe Mutter Ganga!« Ein frommer Wunsch.

Jeder Gläubige nimmt sich nach dem Besuch am Strom ein Gefäß mit Gangeswasser mit nach Hause - für besonders wichtige familiäre Zeremonien. Und Hindus, die sich an den »Feuerghats« verbrennen lassen, haben beste Aussichten auf »Moksha«, die Erlösung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Kein Wunder, dass der 2510 Kilometer lange Ganges den offiziellen Status des nationalen Flusses Indiens trägt.

»Jai Ganga Mata ki« und das beeindruckende nächtliche Ritual könnten, kritisch betrachtet, auch ein Bitten um Vergebung sein, weil die Menschen dem Fluss tagtäglich schweres Leid zufügen. »Der Ganges ist krank«, klagt Veer Bhadra Mishra im ND-Gespräch. Er ist in Varanasi eine Kapazität im Umweltschutz und setzt sich mit seiner Sankat-Mochan-Stiftung seit über 25 Jahren unbeirrt dafür ein, dass der heilige Strom von seiner Schmutz- und Giftlast befreit wird.

Niemand eignet sich besser für diesen »Job« als er. Er ist der Oberpriester des hiesigen Hanuman-Tempels und von Beruf Wasserbauingenieur, vereint also die religiöse und die wissenschaftlich-technische Komponente der Gangesreinigung in einer Person. Mit Expertenhilfe von Universitäten analysierte seine Stiftung, was der Fluss zu ertragen hat. Festgestellt wurden Zyanide, Arsen, Blei, Zink, Chrom, Quecksilber, Cholera- und Typhuskeime, Exkremente, Leichenteile und Tierkadaver...

Täglich wird der Ganges mit 1,2 Milliarden Litern Abwasser verseucht. Die kommen vor allem aus 114 Städten, darunter Großstädte wie Kanpur, Allahabad, Varanasi, Patna und Kolkata. Dazu aus der Industrie und aus mit Chemikalien überfrachteter Landwirtschaft. Allein Varanasi mit seinen zwei Millionen Einwohnern und täglich zehntausenden Pilgern steuert mindestens 200 Millionen Liter Kloake bei. »Das Wasser am Ende des sieben Kilometer langen Varanasi-Ufers ist grau und stinkt. Methanblasen steigen auf. Die Konzentration von Kolibakterien übersteigt das zulässige Maß alarmierend«, erklärt Dr. Mishra die Situation. Keine Frage, dass die »mythologische Reinigerin« dringend der eigenen Reinigung bedarf.

In der Flussmitte wird ein Päckchen versenkt

Beim Spaziergang am Gangesufer fällt es nicht schwer, sich einen Eindruck vom Ausmaß der Verschmutzung zu machen. Rund 60 000 Menschen nehmen an den Ghats täglich ihr Bad, zu dem meist auch die Reinigung mit Seife gehört. An einem Abschnitt, dem Dhobi Ghat, stehen die Wäscher im Wasser und schlagen auf flachen Holztischchen den Schmutz aus der Kleidung ihrer Kunden. An Dutzenden Stellen rinnt oder sprudelt Abwasser aus Hotels, Restaurants, Wohnungen und Werkstätten in den Fluss. Das einst von den britischen Kolonialherren eingeführte Abwasserkanalsystem ist längst marode und völlig unzureichend für die Millionenstadt. Ein Straßenkehrer läuft gemächlich am Ufer entlang und fegt allen Unrat in hohem Bogen ins Wasser. An den Verbrennungsstellen lodern rund um die Uhr die Feuer, und gar mancher nur halb verbrannte Leichnam verschwindet in den Fluten.

Überhaupt gehört zur reformbedürftigen religiösen Tradition, dass Priester, Lepra- und Pockenkranke, Schwangere, Selbstmörder, Kinder unter zehn Jahren und durch Cholera, Schlangenbiss, Blitzschlag oder durch wilde Tiere Getötete nicht verbrannt, sondern der Mutter Ganga »zugeführt« werden. Wir beobachten, wie ein Vater der in weißes Tuch gehüllten Kindesleiche einen Steinbrocken umbindet, sich mit dem Boot zur Flussmitte rudern lässt und das Päckchen versenkt. An einer anderen Stelle wirft einer den Kadaver seines in Silberfolie gewickelten Schoßhündchens ins Wasser.

Wenn Umweltguru Mishra früher vor den anderen Priestern seines Tempels über die Schmutzlast des heiligen Stroms klagte, empfanden sie das als Beleidigung der Mutter Ganga und baten ihn, solche blasphemischen Äußerungen zu unterlassen. Ihrer Auffassung nach bleibt die Göttin automatisch nachhaltig rein. Nichts Irdisches könne sie besudeln.

Eines Tages aber lud Dr. Mishra seine Kollegen zu einer Busfahrt an die Stelle ein, wo sich Varanasis Kloake am deutlichsten sichtbar in den Fluss ergießt. »Was ist hier noch heilig? Ist das kein Verbrechen?«, fragte er die Sprachlosen. Stumm nickten sie und gehören seitdem zu den engagiertesten Verbündeten seiner Stiftung.

Veer Bhadra Mishra kommt sich manchmal wie Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlenflügel vor. Doch er setzt sein Bemühen um Aufklärung und Anerkennung seiner Aktivitäten fort, tritt auf Konferenzen auf, erhält Auszeichnungen für sein Wirken, wird im Mai 2001 von Sonia Gandhi empfangen, der Chefin der regierenden Kongresspartei. Schließlich lädt ihn das Büro des Premierministers ab Sommer 2007 immer wieder zu Beratungen über den Ganges-Aktionsplan II ein, den die Regierung vorbereitet.

Allmählich findet er mit seinem umweltschonenden, energiesparenden Bioprojekt namens Fortgeschrittenes integriertes Abwasserteichsystem (AIWPS) Gehör. Dabei handelt es sich um eine auf Varanasi abgestimmte Abfolge von »Teichen«, in denen die Abwässer von Sinkstoffen befreit, durch Fermentierung, Fotosynthese und Algen gereinigt werden.

Der technische Teil ist der einfachere ...

Die Anlage soll auf einer Sandbank sieben Kilometer stromab von Varanasi errichtet werden. Sie wird »gespeist« von einem parallel zum Gangesufer verlaufenden Hauptrohr, in das die Abwässer der Stadt münden und in Richtung Sandbank fließen. Am Ende steht Wasser zur Verfügung, das zumindest für Bewässerung in der Agrarwirtschaft geeignet ist.

Varanasis AIWPS gilt als Pilotprojekt für andere Städte am heiligen Strom. »Wahrscheinlich ist die technische Seite der einfachere Teil der Aufgabe«, vermutet Dr. Mishra, »denn unvergleichlich schwieriger ist es, Gewohnheiten, überholte Traditionen abzulegen, den Bürgern ihre Verantwortung bewusst zu machen, den Widerspruch zwischen innbrünstiger Verehrung und gedankenloser Verschmutzung auszumerzen, ohne ihre religiöse Würde zu verletzen. Doch sie müssen begreifen: Wenn der Fluss stirbt, sterben auch die Menschen.«

Das Vorbild für diese Initiative liefern Städte in Kalifornien. Offensichtlich überzeugt das auch die indische Regierung, die inzwischen Dr. Mishra zum Mitglied der National Ganga River Basin Authority berufen und ihm damit Mitspracherecht in der zu neuem Leben erwachten Gangesmission eingeräumt hat. Dafür gibt es einen Milliardenbatzen an Geld, den Delhi nun bewilligte, dazu eine Milliarde Dollar von der Weltbank.

Veer Bhadra Mishra gibt sich nach Jahrzehnten vergeblichen Mühens erstmals zuversichtlich: »Man hat uns jetzt Verantwortung übertragen. Das ist ein enormer Wandel, ein spürbarer Fortschritt. Wir bleiben dran, Mutter Ganga von ihren Nöten zu befreien.« Irgendwann soll der fromme Wunsch »Jai Ganga Mata ki« doch in Erfüllung gehen.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2010


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