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Indien: Wenn die Bevölkerung nicht will

Von Joseph Keve, Bombay *

In Westbengalen, Goa und Maharashtra wächst der Widerstand gegen die Sonderwirtschaftszonen, die die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen. Vor allem die ländliche Bevölkerung rebelliert - teilweise mit Erfolg.

Die Drohung klang martialisch und war doch ernst gemeint. «Wir geben unser Blut und Leben, aber keinen Quadratzentimeter unseres Landes», rief Nicholas Almeida den DemonstrantInnen zu. Rund 110 000 Salzarbeiterinnen, Fischer und KleinbäuerInnen hatten sich Anfang Februar am Strand von Uttan nordwestlich von Bombay versammelt, um gegen die geplante Sonderwirtschaftszone (SEZ) zu protestieren. Denn dort, wo 120 000 Menschen arbeiten und leben, soll auf über 300 Hektaren ein Amusement-Park, ein Vergnügungszentrum, entstehen.

An der Grosskundgebung beteilig­te sich nicht nur die Bevölkerung der zehn Dörfer, die plattgemacht werden sollen. Es waren auch Menschen aus anderen Landesteilen da. Medha Patkar, die unermüdliche Kämpferin gegen das Narmada-Staudammprojekt und Präsidentin der Nationalen Allianz der Basisbewegungen, hielt die Hauptrede. VertreterInnen aus dem westbengalischen Nandigram berichteten ebenfalls über ihren Kampf. Dort waren bei Auseinandersetzungen um eine SEZ (siehe WOZ Nr. 1/07) vor einem Jahr vierzehn Menschen erschossen worden - getötet von Polizeikräften, die die kommunistische Regionalregierung in Kalkutta geschickt hatte. Auch aus Goa waren Oppositionsgruppen angereist. Sie kamen mit einer besseren Botschaft.

Steuerfreie Zonen

Seit über einem Jahr kämpfen in Indien Hunderttausende gegen die Politik der Zentral- und Regionalregierungen, die überall im Staat fast täglich neue Sonderzonen wollen. Diese SEZs bieten in- und ausländischen Konzernen und GeschäftemacherInnen weitreichende Freiheiten: Wer dort investiert, zahlt in den ersten fünf Jahren keine Unternehmenssteuer (und in den folgenden zwei Jahren nur die Hälfte), entrichtet keine Zölle und keine Mehrwertsteuer, muss keine Arbeitsschutzgesetze und Umweltauflagen befolgen, bekommt Wasser und Strom gratis geliefert, kann auf den gesetzlichen Mindestlohn pfeifen und muss keine Streiks befürchten - denn diese sind verboten.

Dieses von der regierenden Kongresspartei entwickelte (und von den Linksparteien anfangs mitgetragene) Wirtschaftsförderungsprogramm spaltet das Land (siehe WOZ Nr. 29/07). Das geben mittlerweile sogar Politiker­Innen zu. Es fördert die Kluft zwischen Arm und Reich, weil es Billiglöhnen Vorschub leistet und Hunderttausenden die Lebensgrundlage nimmt - und es benachteiligt das Kleingewerbe und jene Firmen, die ausserhalb der SEZs wirtschaften. Und doch bearbeitet die Regierung in Neu-Delhi derzeit mehrere Tausend Anträge auf die Genehmigung von SEZs. 362 Gesuche hat sie bisher gutgeheissen, in 136 Zonen sind die InvestorInnen bereits am Werk.

In Goa wurden sie jetzt allerdings zurückgepfiffen.

Politik und Grundbesitz

Goa, der kleinste indische Bundesstaat und erst seit 1961 Teil der Republik Indien, ist ein Touristenparadies: Schöne Strände, alte portugiesische Bauten, eine gastfreundliche Bevölkerung, Highlife an jeder Bar - zwölf Prozent aller Indienreisenden kommen hierher. Aber Goa ist mehr als nur eine Fremdenverkehrsdestination (auch wenn die lokale Wirtschaft zur Hälfte vom Tourismus lebt). Es gibt auch Naturreservate - und eine Bevölkerung, die unter den Folgen des Tourismus leidet. Die Grundstückspreise explodieren, weil überall neue Resorts, Hotels, Vergnügungspaläste und Bürobauten entstehen. Der Boom lockt massenhaft SpekulantInnen, Securityleute, Sexarbeiterinnen, Animateure, Reiseagentinnen und Spieler in die Region.

Dazu kommt die Verquickung von Politik und Grundbesitz. «Goa hat vierzig Parlamentsabgeordnete, und mindestens fünfzehn von ihnen haben ihre Finger im Immobiliengeschäft», sagt Cajetan Raposo, Politikwissenschaftler am St. Xavier's College in Mapuca. Und so winkte die Regionalregierung im vergangenen Jahr gleich achtzehn SEZ-Anträge durch.

Doch dann rebellierte die Bevölkerung. Im Dorf Keri - dort hatte die Regierung einem indischen Pharmaunternehmen eine 127 Hektar grosse Sonderzone zugeteilt - blockierten die BewohnerInnen alle Bauarbeiten. Im Dorf Verna, wo Bombayer SpekulantInnen 107 Hektar Land umnutzen wollten, legten sich die Menschen ebenfalls quer.

Und auch anderso wuchs der Protest gegen unkontrollierte Bauwut, Massenvertreibungen, Umweltzerstörung - bis der seit einem halben Jahr amtierende Chefminister Digamber Kamat von der Kongresspartei Anfang Januar die Notbremse zog. «Wenn die Bevölkerung die SEZs nicht will, soll sie sie auch nicht haben», sagte er und forderte die Kongressregierung in Neu-Delhi auf, alle SEZ-Anträge sofort zu stornieren. Seine Parteifreunde an der Spitze zögerten zwar eine Weile («genehmigt ist genehmigt»), gaben dann aber nach. Seither ist Goa die erste SEZ-freie Zone Indiens.

Auch in anderen indischen Bundesstaaten lässt allmählich der neoliberale Enthusiasmus der Regierenden nach. Ihr Wirtschaftskonzept stösst überall dort auf Widerstand, wo Menschen sich wehren können - also vor Ort. ­Deswegen sind die Proteste gegen die SEZs in einem Land, in dem 46 Prozent aller Kinder unterernährt sind, auch ein Indiz für die Stimmung im Land. Das hat die kommunistische Regierung von Westbengalen schon vor einem Jahr ­begriffen: Sie stoppte das SEZ-Projekt in Nandigram, von dem ein indonesischer Konzern profitieren sollte. Und vor drei Monaten reiste der westbengalische Chefminister höchst­persönlich ins Dorf, um sich bei der Bevölkerung ganz offiziell zu entschuldigen.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 13. März 2008


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