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Die den Haß säen

Gewaltakte gegen Muslime und Christen unter religiösem Vorwand gefährden die staatlichen Strukturen Indiens

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Im Jantar-Mantar-Park im Zentrum Neu-Delhis protestieren seit Freitag voriger Woche linke und säkulare Kräfte gemeinsam mit Angehörigen der christlichen Minderheit gegen die wachsende Gefahr, daß politische Kreise unter dem Deckmantel von Religion die staatlichen Strukturen demontieren. Deve Gowda, der frühere Premier Indiens und Präsident der Partei Janata Dal (Secular), der sich noch bis zum 2. Oktober unter den Protestierenden befindet, sieht bereits »eine schwere Erosion der säkularen Werte Indiens, die die Bundesstruktur gefährdet.« Vor Journalisten kritisierte er scharf, daß Hindufundamentalisten Mißtrauen und Verdächtigungen unter Angehörige der Hauptreligionen säen. Die anhaltende Verfolgung von Christen und die »Hexenjagd« auf Muslime, die den jüngsten Terroranschlägen in Neu-Delhi folgte, bedrohen nach Gowdas Einschätzung den säkularen Charakter und sogar die staatliche Einheit Indiens. Er fordert die Etablierung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild, die alle Gewaltakte überprüft, die unter religiösem Vorwand begangen wurden. Sie soll das Vertrauen, besonders der Minderheiten, in das demokratische System wiederherstellen und »alle entfremdeten Inder in den Hauptstrom zurückbringen«. Gowda gehört auch zu jenen, die vehement fordern, die Schlägertrupps der hinduistischen Bajrang Dal und den Haß versprühenden fundamentalistischen Welthindurat (VHP) zu verbieten.

Aus dem ostindischen Bundesstaat Orissa eintreffende alarmierende Meldungen beweisen die Aktualität von Gowdas Forderung und die Notwendigkeit des Protestes. Im dortigen Kandhamal-Distrikt, so schätzte der Erzbischof von Cuttack/Bhubaneswar, Rapahael Cheenath, zu Wochenbeginn ein, ist die Lage seit August nicht unter Kontrolle. Aus dem örtlichen Badasalunki-Fluß waren am Sonntag drei Leichen geborgen worden, die man als Christen identifizierte. Erneut gingen 40 Häuser in Flammen auf. Erst in der vorigen Woche wurden hier Hunderte Bäume gefällt, um Straßen zu blockieren und Ordnungshütern, Vertretern von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten so den Zugang zu den Tatorten zu verwehren. Die Täter beschuldigen die Christen, mit »Betrug und Gewalt« Hindus zum Glaubenswechsel zu zwingen. Dafür gibt es allerdings keinerlei Beweise. Sozialaktivisten glauben, der wahre Grund sei, daß durch das Wirken christlicher Bildungs- und Sozialeinrichtungen das Leben von Millionen armen und rechtlosen Indern verbessert wurde. Offensichtlich passe das nicht ins Konzept der Fundamentalisten.

Geplante Verbrechen

Der »Christenverfolgung« haben sich unterdessen auch in anderen Bundesstaaten, obgleich weniger drastisch, fanatische Gruppen angeschlossen, so in Karnataka, Madhya Pradesh, Tamil Nadu, Kerala, Andhra Pradesh, Chattisgarh und Jharkhand. 4000 Attacken wurden bislang registriert, denen mehr als 50 Menschen zum Opfer fielen. Geistliche wurden verprügelt, Nonnen vergewaltigt, 143 Kirchen, über 4000 Häuser in mehr als 300 Dörfern zerstört. 50 000 Menschen wurden zur Flucht gezwungen und leben in Notlagern. Die Asiatische Menschenrechtskommission schätzt ein, es handele sich durchaus nicht um sporadische Aktionen. Vielmehr gingen und gehen die Täter systematisch und nicht selten mit dem stillen Einverständnis der Behörden vor. In Orissa und Karnataka, wo die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) regiert oder in einer Koalition mitregiert, bedurfte es einer dreimaligen Ermahnung seitens der Zentralregierung, ehe die dortigen Chefminister die Polizei zu energischerem Durchgreifen veranlaßten.

BJP mischt mit

Die Kongreßpartei, die linken und einige andere Parteien sehen die Überfälle der Hindu-Fanatiker vor dem Hintergrund der kommenden Parlamentswahlen. Sie sind sich sicher, daß die BJP mit diesem Kurs die Hindu-Mehrheit beeinflussen und die in der Verfassung verankerten säkularen Strukturen aufweichen will. Immerhin fällt in diesem Zusammenhang auf, daß nicht ein einziger BJP-Spitzenpolitiker die Ausschreitungen gegen die christliche Minderheit verurteilte.

Finanzminister Chidambaram konstatierte unlängst, die Spaltung zwischen Muslimen und Hindus nehme gefährliche Formen an. Er kritisierte Ghettoisierung, sozialen Boykott, Diskriminierung bei der Beschäftigung sowie ein Verwischen der Linien zwischen Staat und Religion, wie es in Gujarat bereits geschehen sei. »Aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in der Muslimgemeinschaft und, wenn nicht entschlossen gegengesteuert wird, auch in christlichen Gemeinschaften von Stammesangehörigen werden neue Wellen des Terrors entstehen,« befürchtet der Minister.

* Aus: junge Welt, 1. Oktober 2008


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