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Mahatma ist zurückgekehrt

Anna Hazares Antikorruptionsbewegung hat ganz Indien erfasst

Von Henri Rudolph, Delhi *

Den ganzen Tag bis spät in die Nacht herrscht Hochbetrieb auf dem Ramlila Ground unweit des Zentrums der indischen Hauptstadt. Auf der riesigen Festwiese hat Anna Hazare mit der Führungsgruppe seiner Kampagne »Indien gegen Korruption« seit dem 18. August sein Hauptquartier aufgeschlagen, das täglich bis zu 50 000 Sympathisanten besuchen. Der Sozialaktivist Anna Hazare befindet sich seit dem 16. August im Hungerstreik für ein wirkungsvolles Gesetz gegen die weit verbreitete Bestechung, unter der fast jeder Inder leidet. Das Gesetz soll die Bildung einer unabhängigen Institution »Lokpal« zur Eindämmung der Korruption fixieren. Einen Gesetzesentwurf der Regierung lehnt das »Team Anna« als unzureichend ab.

Geschwächt, doch kämpferisch

Ein Meer von indischen Nationalflaggen. Patriotische Gesänge, in die Anna Hazare, der 74-jährige Bürgerrechtler, als nationaler Held eingewoben ist. Sprechchöre »Vande mataram« und »Bharat mata ki jai« (Es lebe das Heimatland und Mutter Indien!) und »Es lebe die Revolution!«, Plakate mit der Aufschrift »Mahatma is back«, über 20 Meter lange Spruchbänder mit tausenden Unterschriften, riesige Fotos von Hazare. Über 30 000 Menschen füllen an diesem schwülen Wochenendabend den Ramlila Ground. Viele tragen das traditionelle Gandhi-Käppi, darauf handgeschrieben in Hindi oder Englisch: »Ich bin Anna.« Auf der Tribüne vor einer gigantischen Leinwand mit dem Bildnis Mahatma Gandhis im Schneidersitz der »neue Gandhi«, durch das Fasten körperlich geschwächt, doch nach wie vor in kämpferischer Stimmung. Dazu seine Führungsmitglieder Kiran Bedi, ehemals hochdekorierte Polizeichefin, Prashant Bhushan, ein prominenter Rechtsanwalt, Shanti Bhushan, früherer Justizminister Indiens, sowie Arvind Kejriwal und Manish Sisodia.

Frenetischer Jubel bricht aus, als Kiran Bedi durchs Mikrofon ruft: »Anna ist Indien. Indien ist Anna.« Kejriwal erklärt, dass der Regierungsentwurf schwach sei, die Bestechung schütze und jene hinter Gitter bringe, die Beschwerde gegen Bestechungspraktiken erheben. »Der Entwurf braucht eine völlige Neufassung«, sagt er unter tosendem Beifall.

Prashant Bhushan verlangt ein Referendum. Das Volk solle direkt abstimmen, ob es den Gesetzesentwurf der Regierung oder den der Bewegung »Indien gegen Korruption« favorisiert. Die Abstimmung erfolgt sofort aus tausenden Kehlen: »Anna, Anna, Anna.« Endlich ergreift Hazare das Wort. Er hat ein Ultimatum gestellt: Bis zum 30. August müsse seine Lokpal-Version vom Parlament abgesegnet werden. Diese Position hat er inzwischen jedoch revidiert und der Regierung einen modifizierten Entwurf vorgelegt. Im Parlament sollen an diesem Wochenende verschiedene Lokpal-Versionen debattiert werden, auch Annas. Aber das wird nicht ausreichen, ihn zur Aufgabe des Hungerstreiks zu bewegen. Er will vom Premier eine Resolution, die seine drei wichtigsten Punkte enthält: Die untere Beamtenschaft soll vom Gesetz erfasst, eine Bürgercharta zur zügigen Reaktion auf Beschwerden erarbeitet und in jedem Unionsstaat eine lokale Antikorruptionsbehörde installiert werden.

An diesem Abend fordert er, die ganze Bestechungskette müsse zerbrochen werden. »Mein Einsatz ist noch längst nicht zu Ende. Wir brauchen eine Bodenreform, Rechte der Bauern, ein besseres Bildungswesen, Reformen des Wahlsystems und ein Recht, Abgeordnete abzuwählen.«

Hazare ruft die Jugend Indiens auf, der Welt ein Beispiel zu geben mit einer »gewaltlosen, friedlichen Revolution, einem zweiten Freiheitskampf«. Die Jugend sei erwacht. Sie sei die stärkste Kraft des Landes. »Sie will Ausplündern und Bestechen nicht länger hinnehmen.« Minutenlanger Beifall und Hochrufe auf Anna und Indien folgen diesem Auftritt.

Wir mischen uns unters Volk und befragen ein paar Bürger, die ihre Unterstützung für die Antikorruptionskampagne bekunden. Kuldeep Rawat, 30 Jahre alt, kommt aus der Hotel- und Reisebranche. Mit 30 Kollegen trägt er ein Transparent »Wir sind mit Anna«. Er äußert: »Wir sind nach Dienstschluss hierher gekommen, weil wir uns voll mit dem ›Team Anna‹ solidarisieren und im wahrsten Sinne des Wortes auch Flagge zeigen wollen.«

Mukesh Bhardwaj, ein 44-jähriger Kleinunternehmer: »Die Leute, die wir gewählt haben‚ vergessen ihre Wähler, sobald sie im Parlament sitzen. Sie wirtschaften in die eigene Tasche und horten ihr Geld im Ausland. Das muss ein Ende haben.«

Ein Sprecher der Delhier Ärztevereinigung, die 40 000 Mediziner repräsentiert, erklärt: »Wir sind nicht hier, um Theater zu machen. Es geht um eine ernste Sache. Die Korruption ist wie ein Krebs am Körper der Nation. Wir wollen das Land aufrütteln. Dazu brauchen wir einen Mann wie Anna. Er ist der zeitgenössische Mahatma. Die Mehrheit ist auf seiner Seite. Die Regierung ist isoliert.«

Dharmendra Chaturvedi, 21 Jahre, Software-Ingenieur in einem internationalen Konzern: »Wenn es gelingt, die Korruption zu beseitigen, dann werden viele andere Probleme sozusagen automatisch gelöst. Die jetzige Bewegung kommt ursprünglich aus der Mittelklasse, die bislang eigensüchtig gehandelt hat und nur auf Profit orientiert war. Nun hat sie erstmals einen Missstand angepackt, unter dem alle Bevölkerungsschichten leiden – ob bei den Behörden, bei der Polizei, im Bildungs- oder im Gesundheitswesen, im staatlichen Rationierungsladen oder dem ländlichen Beschäftigungsprogramm.«

»Anna ist ein besonderer Dschihad«

Rekha Tiwari, 24, Modedesignerin, und ihre Schwester Asha, 26, Finanzbuchhalterin: »Es geht um unsere Zukunft. Das Parlament arbeitet schlecht. Es sitzen zu viele bestechliche Abgeordnete drin. Die müssen durch ehrliche, engagierte ersetzt werden. Selbst wenn ein starkes Gesetz angenommen wird, muss ›Indien gegen Korruption‹ weiter Druck machen, damit sich etwas ändert. Die Inder brauchen eine Tribüne wie diese hier, weil sie unzufrieden sind.« Ein Muslim bringt seine Gedanken auf eine kurze Formel: »Anna ist ein besonderer Dschihad. Es lebe Anna! Mit Allahs Hilfe wird er Erfolg haben.«

Sudesh Verma und Surajit Dasgupta von der Organisation »Jugend für Demokratie« verlangen einen Systemwechsel. Die Eliten der Bürokratie, des Business und der Politik hätten sich des Parlaments bemächtigt. Sie behaupten, Indien habe das beste demokratische System und sei die größte Demokratie der Welt. Doch das gesamte Wahlsystem sei korrupt, von Geld, Einfluss und Macht geprägt. Ein armer, ehrlicher Mann habe keine Chance, gewählt zu werden. Das müsse geändert werden. Es gehe darum, dass die Bürger mitbestimmen, gefragt und gehört werden. Die Solidarität mit Anna erkläre sich daraus, dass er für Prinzipien stehe, ihm die Menschen vertrauen. Seine Aufgabe sei nun, alle Gruppen, die gegen Korruption kämpfen, ins Boot zu holen.

Bei aller Popularität Anna Hazares und aller Masseneuphorie, die nicht nur in Delhi, sondern landesweit zu spüren ist, lässt sich ein markanter Widerspruch nicht übersehen: Alle politischen Parteien stehen zum »neuen Gandhi«, der auf das Recht zu Protest, zu Dissens und zu gewaltlosem, friedlichem, zivilem Widerstand pocht. Doch keine Partei hat seinem Gesetzesentwurf bedingungslos zugestimmt. Dorasamy Raja von der Führung der KP Indiens meinte: »Keiner kann dem Parlament etwas diktieren. Die Gesetzgebung erfolgt im Parlament und nicht auf auf der Straße.«

Die rechte Indische Volkspartei BJP äußerte Vorbehalte gegen beide Entwürfe und kocht ihr eigenes Süppchen. Parteiveteran Lal Krishna Advani glaubt: »Die Frage ist nicht länger ein effektives Gesetz gegen Korruption, man muss sich der Regierung von Premier Manmohan Singh entledigen.« Ram Vilas Paswan, Chef der Partei Lok Janshakti, sieht als Schwachpunkt in Annas Entwurf, dass dessen Lokpal-Institution Ermittler, Ankläger und Richter in einem wäre. Aruna Roy von der Nationalen Kampagne für das Recht des Volkes auf Information hat ähnliche Bedenken und sieht die Gefahr einer »autoritären und überbürokratisierten Behörde«.

Wenn »Team Anna« sich solchen Argumenten nicht verschließt und nicht als Alleinvertreter der verärgerten Bevölkerung agiert, kann die Bewegung gegen Korruption an Durchschlagskraft gewinnen und Veränderungen des Systems bewirken.

* Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


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