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Sieg für Anna

Indischer Bürgerrechtler bricht Hungerstreik gegen Korruption nach Erfolg im Parlament ab

Von Hilmar König *

In Indien hat der Bürgerrechtler Anna Hazare am Sonntag seinen am 16. August begonnenen Hungerstreik beendet, nachdem das Parlament in Neu-Delhi am Vortag drei seiner zentralen Forderungen an den Ständigen Ausschuß zur Beratung weitergeleitet hatte. Dabei geht es vor allem um die Bildung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde »Lokpal«, die der Korruption einen Riegel vorschieben soll. Zudem soll eine Charta zur zügigen Bearbeitung von Beschwerden verfaßt und in jedem Bundesstaat eine lokale Antikorruptionsbehörde (Lokayukta) installiert werden. Vor Tausenden Anhängern ließ sich der 74jährige von zwei jungen Mädchen – einer Dalit und einer Muslimin – ein Glas von mit Honig vermischtem Kokosnußwasser reichen, bevor er sich zur medizinischen Untersuchung in ein Krankenhaus bringen ließ. Der Kampf sei nicht zu Ende, aber der erste Erfolg in der Legislative habe gezeigt, daß das »große Parlament des Volkes« stärker sei als das »Parlament in Delhi«.

Der Kampf um die Durchsetzung eines Antikorruptionsgesetzes hatte sich mit dem Hungerstreik Hazares zugespitzt. Zentrum der Auseinandersetzungen ist die riesige Festwiese Ramlila Ground in Neu-Delhi, auf der der Bürgerrechtler am 18. August das Hauptquartier seiner Kampagne »Indien gegen Korruption« errichtet hat. Bis zu 50000 Menschen strömen täglich hierher, um dem 74 Jahre alten Hazare ihre Solidarität zu bekunden. Bis spät in die Nacht wird der Platz dann zu einem Meer aus indischen Nationalflaggen. In patriotischen Gesängen wird Anna Hazare als nationaler Held gefeiert. Sprechchöre lassen die »Mutter Indien« hochleben und fordern: »Es lebe die Revolution!« Plakate proklamieren »Mahatma is back«, über 20 Meter lange Spruchbänder mit Tausenden Unterschriften, riesige Fotos von Hazare. Auf der Tribüne sitzt der »neue Gandhi« vor einer gigantischen Leinwand mit dem Bildnis Mahatma Gandhis im Schneidersitz, durch das Fasten körperlich geschwächt, jedoch nach wie vor in kämpferischer Stimmung. Um ihn herum stehen die Mitglieder der Kampagnenführung wie die ehemals hochdekorierte Polizeichefin Kiran Bedi, der prominente Rechtsanwalt Prashant Bhushan und der frühere indische Justizminister Shanti Bhushan.

Von der Tribüne forderte Anna Hazare, immer wieder von stürmischem Beifall unterbrochen, die bis in die Ministerriege reichende Bestechungskette müsse zerbrochen werden. »Mein Einsatz ist noch längst nicht zu Ende. Wir brauchen eine Bodenreform, Rechte der Bauern, ein besseres Bildungswesen, Reformen des Wahlsystems und ein Recht, Abgeordnete abzuwählen.« Er rief die Jugend Indiens auf, mit einer »gewaltlosen, friedlichen Revolution, einem zweiten Freiheitskampf, der Welt ein Beispiel zu geben. Die Jugend ist erwacht. Sie ist die stärkste Kraft des Landes. Sie will Ausplündern und Bestechung nicht länger hinnehmen. Diese Flamme darf nicht mehr erstickt werden. Bis Indien frei von Korruption ist, muß diese Fackel brennen!«

Dharmendra Chaturvedi, ein 21 Jahre alter Software-Ingenieur in einem multinationalen Konzern, stimmt Hazare zu: »Es gibt viele soziale Probleme. Aber wir denken, wenn es gelingt, die Korruption zu beseitigen, dann werden viele andere Probleme automatisch gelöst. Die Menschen in Stadt und Land sind zutiefst verärgert. Die jetzige Bewegung kommt ursprünglich aus der Mittelklasse, die bislang eigensüchtig gehandelt hat und nur auf Profit orientiert war. Nun hat sie erstmals einen Mißstand angepackt, unter dem alle Bevölkerungsschichten leiden – ob bei den Behörden, bei der Polizei, im Bildungs- oder im Gesundheitswesen, im staatlichen Rationierungsladen oder dem ländlichen Beschäftigungsprogramm.« Sudesh Verma und Surajit Dasgupta von der Nichtregierungsorganisation »Youth 4 Democracy« (Jugend für Demokratie) gehen noch weiter und verlangen einen Systemwechsel. Die Eliten der Bürokratie, des Busineß’ und der Politik hätten sich des Parlaments bemächtigt und behaupteten dort, Indien sei die »größte Demokratie der Welt«. Doch tatsächlich sei das gesamte Wahlsystem korrupt und von Geld, Einfluß und Macht geprägt. Ein armer, ehrlicher Mann habe keine Chancen, gewählt zu werden. Das müsse grundlegend geändert werden. Es gehe darum, daß die Bürger mitbestimmen, gefragt und gehört werden. Die breite Solidarität mit Anna Hazare erkläre sich daraus, daß er für Prinzipien stehe, ihm die Menschen glauben und vertrauen. Seine Aufgabe sei nun, alle anderen Gruppen, die ebenfalls gegen Korruption kämpfen, ins Boot zu holen.

* Aus: junge Welt, 29. August 2011


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