Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wenn Indiens Wirtschaft wächst ... wächst auch der Hunger

Gastkommentar. Von Anuradha Mittal *

Weltweit geben Politik und Medien einer Reihe von Umständen die Schuld für steigende Lebensmittelpreise. Neben dem Klimawandel wird besondere eine explosive Nachfrage in China und Indien genannt. Da in beiden Staaten ein Drittel der Weltbevölkerung lebt, mag das einleuchten. Das Argument, die Versorgung von 1,8 Milliarden Menschenn könne eine Weltkrise auslösen, sollte jedoch hinterfragt werden. Es kann nicht sein, nach Gutdünken zwei Schwellenländer willkürlich für mögliche Horrorszenarien haftbar zu machen.

Ein Blick auf die tatsächliche Lage Indiens zeigt, pauschale Urteile sind unhaltbar. Das UN-Welternährungsprogramm geht derzeit davon aus, dass 350 Millionen Inder unter prekären Verhältnissen leiden, und sagt zugleich: Fast die Hälfte der Menschen, die weltweit hungern, lebt in Indien. Wer sich dessen Wirtschaftsbilanzen seit 1990 anschaut, dem dürfte auffallen, dass der Konsum von Getreide und Gemüse, wovon sich die Ärmsten hauptsächlich ernähren, zwischen 1990 und 2007 zurückgegangen ist.

Wird die These, Indien führe immer mehr Nahrungsmittel ein, unvoreingenommen analysiert, dürfte bald die Frage auftauchen: Ist dies dem Gewinn an Kaufkraft oder eher dem Verlust an agrarischer Basis geschuldet. Der südasiatische Subkontinent hat wohl eine landwirtschaftliche geprägte Ökonomie, aber Ackerbau und Viehzucht an sich konnten im Vorjahr nur geringfügig zulegen (+ 2,7 Prozent gegenüber 2006), während die Industrie um zehn Prozent expandierte. Die Regierung in Delhi versucht seit geraumer Zeit, eine allein vom Markt beherrschte Agrarproduktion anzukurbeln. Inzwischen wird der Anbau von Getreide vielfach auf die Aussaat von hochwertigen Sorten für den Export umgestellt. Damit bricht die Politik endgültig mit dem nach der Unabhängigkeit von 1947 geltenden Prinzip: Selbstversorgung ist ein hohes Gut und darf nicht preisgegeben werden.

Wie sehr jedoch die Exportkraft fasziniert, wird auch im fieberhaften Ausbau von Sonderwirtschaftszonen für die Landwirtschaft sichtbar. Demnächst soll es mindestens 500 derartiger Distrikte geben, wofür allein der indische Staat 150.000 Hektar aufkaufen will. Durch diese Landnahme könnte die Existenz von etwa 114.000 Bauernfamilien in Frage gestellt sein, die ihr angestammtes Land verlassen müssten. Das heißt, etwa eine Million Menschen, die von der Landwirtschaft abhängig sind, stehen vor Vertreibung und Umsiedlung.

Eine Konsequenz davon ist, dass bereits jetzt immer mehr Farmer in Ruin, Verzweiflung und Selbstmord getrieben werden - über 17.000 Suizide gab es allein 2007.

Hunger und Armut in Indien - mitten im Überfluss, den Oberschiocht und Eliten genießen - sind zum Sinnbild des Hungers auf der ganzen Welt geworden. Dahinter stehen Jahrzehnte, in denen die Landwirtschaft gerade der Schwellenländer vernachlässigt wurde und verirrte Politiker ergeben befolgten, was ihnen internationale Finanzinstitute empfahlen.

Ein Bericht der britischen Hilfsorganisation Oxfam aus diesem Jahr weist eindrucksvoll nach, dass gerade in Indien kleine Agrarproduzenten oft genug eine höhere Produktivität pro Hektar verzeichnen als große Agrarunternehmungen, die seit Jahren dort seit Jahren den Ton angeben. Vor allem sind erstere mit ihren lokal produzierten und lokal abgesetzten Gütern ein durch nichts ersetzbarer Versorger des eigenen Marktes. Was sie leisten und hervorbringen, muss weder international nachgefragt werden, noch treibt es Weltmarktpreise noch oben.

* Anuradha Mittal ist Gründerin und Direktorin des Oakland Institute in Kalifornien

Aus: Wochenzeitung "Freitag" Nr. 40, 3. Oktober 2008



Zurück zur Indien-Seite

Zur Seite "Armut, Elend, Hunger"

Zurück zur Homepage