Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hungerproteste in Indien

Mehrere Gewerkschaften mobilisieren gegen gestiegene Lebensmittelpreise. Betrugsskandal bei Hilfsprogramm im Visier von Ermittlern

Von Thomas Berger *

Die Auseinandersetzungen in Indien um explodierende Nahrungsmittelpreise und (ungenügende) Gegenmaßnahmen der Regierung haben einen neuen Höhepunkt erreicht. Nach unterschiedlichen Angaben hatten die Gewerkschaften zwischen 100000 und 200000 Menschen mobilisiert, die am Mittwoch an den größten Protestaktionen der jüngeren Landesgeschichte in der Hauptstadt Delhi teilnehmen.

»Erstmals haben linke und nichtlinke Gewerkschaftsverbände so etwas gemeinsam organisiert«, freute sich Gurudas Dasgupta, Generalsekretär des kommunistischen All India Trade Union Congress (AITUC), über den Erfolg. Nicht nur sein Verband und der ebenfalls linke Centre of Indian Trade Unions (CITU), sondern auch die der regierenden Kongreßpartei nahestehende Gewerkschaft Indian National Trade Union Congress (INTUC) hatten sich zu der gemeinsamen Aktion bereitgefunden. Man wolle die Politiker der Kongreßpartei daran erinnern, wofür sie gewählt wurden und welche Versprechen noch zur Erfüllung anstünden, hieß es von Gewerkschaftsvertretern zu diesem historischen Schritt. Auch unabhängige Gruppen beteiligten sich an der Massendemonstration, ebenso wie führende Mitglieder der kommunistischen Parteien CPI und CPI-M. Eine Gruppe der Protestierenden übergab eine Erklärung an Parlamentspräsidentin Meira Kumar (INC). Darin wird die Regierung zum Handeln aufgefordert.

Wenn Gewerkschaften eine solche Menschenmenge aus mindestens 19 Unionsstaaten in der Hauptstadt versammeln können, spricht das für den Ernst der Lage. Selten zuvor ist indischen Familien der Gang zum Markt so schwergefallen wie in den letzten Monaten. Spätestens seit Jahresbeginn haben die Preise für Grundnahrungsmittel einen deutlichen Sprung nach oben gemacht. Für ärmere Bevölkerungskreise sind Reis, Zwiebeln oder Tomaten im Freiverkauf nahezu unerschwinglich geworden. Zwar hatte die »Zwiebelkrise« schon Mitte Januar zu mehreren Kabinettssondersitzungen im Tagesabstand geführt, doch eine nachhaltige Entspannung bei den Preisen haben alle bisherigen Maßnahmen der Zentralregierung nicht gebracht. Die angestrebte Erhöhung der Importe wurde teilweise dadurch blockiert, daß der Nachbar Pakistan seine Zwiebel­ausfuhren über die Grenze stoppte. Und auch die Razzien bei Großhändlern, die immense Lagerbestände horteten, zeigte nur bedingt abschreckende Wirkung.

Verschiedene Aspekte kommen bei der fortgesetzten Teuerung zusammen. Nur zum Teil ist die Entwicklung durch Mißernten auf heimischem Gebiet erklärbar. Allerdings schlagen Ernteausfälle im globalen Maßstab mit Preissteigerungen und Exportbeschränkungen auf dem Weltmarkt unmittelbar auf das bevölkerungsreichste Land Südasiens durch. Hinzu kommen Spekulanten auf den verschiedenen Ebenen, deren Profitgier zur, künstlichen Angebotsverknappung und damit Preissteigerungen führt.

Wenn die Demonstranten in Delhi kritisieren, der Staat kümmere sich nicht genügend um die Ernährungssicherheit seiner Bürger, so ist unterschwellig auch ein weiterer Skandal auf diesem Sektor ein Thema, der den bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesch in Atem hält. Umgerechnet mehr als 40 Milliarden US-Dollar, so bisherige Schätzungen, betrage der Schaden, der durch großangelegten Betrug bei verschiedenen Wohlfahrts­programmen entstanden ist. Mehrere tausend Beamte, Geschäftsleute und Kommunalpolitiker sollen in die kriminellen Machenschaften verwickelt sein, die seit einiger Zeit von Indiens Zentraler Ermittlungsbehörde (CBI) untersucht wird. Die primär Geschädigten sind wiederum die Ärmsten der Armen – womöglich mehrere Millionen sind ganz oder teilweise um ihnen zustehende Leistungen geprellt worden.

Zumindest auf dem Papier ist das System gut organisiert: Gegen Berechtigungsscheine können Familien, die anerkanntermaßen unter der offiziellen Armutsgrenze leben müssen, in speziellen Läden Reis und andere Güter zu reduzierten Preisen einkaufen. Das Programm kostet den Staat beträchtliche Summen, beugt allerdings wenigstens großen Hungersnöten vor. Doch kommt es immer wieder zu Fällen von Betrug. Einen Schwindel, wie er in Uttar Pradesch passiert ist, haben aber wohl nicht einmal die größten Pessimisten für möglich gehalten. Hundertfach sollen Lastwagen mit Lebensmitteln nur auf dem Papier bewegt worden sein. Bei Kontrollen stellten sich die angegebenen Fahrzeugkennzeichen als die von Rikschas oder Mopeds heraus. Für das Programm verantwortliche Ministerialangestellte, Betreiber von Fair-Preis-Shops, Dorfbürgermeister und andere hätten mafiaartig die enormen Gewinne unter sich aufgeteilt, nachdem die veruntreuten Waren anderweitig zu marktüblichen Preisen verkauft worden waren, so der bisherige Stand der Ermittlungen.

Die schreiten in den Augen vieler zu langsam voran. 2007 bereits hatte es erste Untersuchungen gegeben, beschränkt auf die Zeit zwischen April 2004 und Oktober 2005. Die steht zwar immer noch im Fokus, die in diese Zeit fallenden Betrügereien sind aber offenbar nur die Spitze des Eisberges. Inzwischen werden Abrechnungen von 2002 bis heute von den Behörden unter die Lupe genommen. Drei Viertel aller Distrikte des Bundesstaates scheinen betroffen. Bei einer Anklage und Verurteilung aller Verdächtigen müßte wohl allein für sie ein neues Gefängnis errichtet werden, so hoch ist die Zahl der mutmaßlich Beteiligten. Betroffen sind nicht nur die Sonderläden, sondern auch andere Programme wie jenes vielgelobte, das im ländlichen Raum jeweils einem Familienmitglied pro Jahr hundert Tage Arbeit bringen soll – mit Bezahlung zumeist in Nahrungsmitteln statt Bargeld. Allein 400000 gefälschte Berechtigungsscheine wurden bisher sichergestellt.

* Aus: junge Welt, 25. Februar 2011


Zurück zur Indien-Seite

Zur Seite "Armut, Elend, Hunger"

Zurück zur Homepage