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Indigene hoffen auf ein Wunder

Um Indiens Präsidentenamt bewirbt sich auch ein Vertreter der Stammesangehörigen

Von Hilmar König *

Indien wählt am Donnerstag einen neuen Präsidenten. Zwei Bewerber sind im Rennen um das höchste Amt im Staate. Die regierende Vereinte Progressive Allianz hat den ehemaligen Finanzminister Pranab Mukherjee, die Opposition den ehemaligen Parlamentspräsidenten Purno Agitok Sangma aufgestellt.

Als der 64 Jahre alte Sangma vor einigen Tagen in Bhubaneshwar, der Hauptstadt des Unionsstaates Odisha, vor einer unübersehbaren Menschenmenge auftrat, flogen ihm die Herzen zu. Das Tribal Forum of India (Stammesforum Indiens), das die Ureinwohner vertritt, favorisiert diesen Kandidaten. Er selbst gehört einem indigenen Stamm im nordöstlichen Meghalaya an, wo er von 1988 bis 1990 Chefminister war. In Odisha, wo der Anteil der Indigenen besonders hoch ist, erklärte Purno Agitok Sangma unter dem Jubel der Versammelten: »Ich bin euer Kandidat. Einmal ein Freund, immer ein Freund. Ich bin euer Freund.«

Unter den landesweit etwa 100 Millionen Stammesangehörigen besitzt er ohne Zweifel viel Sympathie. Sie würden ihn gerne zum ersten Mann im Land küren. Denn noch nie kam ein Präsident aus der zahlenmäßig großen, jedoch sozial vernachlässigten, diskriminierten und bildungsmäßig schwachen Bevölkerungsgruppe. Sangma, zudem Christ, wäre der erste. So argumentierte er immer wieder: Wenn in der Geschichte des unabhängigen Indiens neben Hindus auch Muslime, ein Sikh, ein Dalit und eine Frau in den Rashtrapati Bhawan - den Präsidentenpalast - eingezogen sind, warum sollte das nicht endlich auch einem Stammesvertreter gelingen?

Doch die Indigenen haben keine Chance, direkt für einen der Ihren zu stimmen. Indiens Präsident wird von einem Wahlkollegium gewählt, dem die Abgeordneten beider Häuser des Zentralparlaments und die Mitglieder der Volksvertretungen aller Unionsstaaten angehören. Die Zahl der Unabhängigen in dem Gremium ist verschwindend gering. Die Mehrheit sind Mitglieder von Parteien, die sich an deren Linie gebunden fühlen. Die Vertretung der Indigenen in den Parlamenten ist gleichfalls gering: Im Unterhaus in Delhi sind lediglich 47 von 545 Sitzen für die »registrierten Stämme« reserviert. Trotzdem gab sich Sangma, der immerhin von 18 Parteien, darunter die hindunationalistische Indische Volkspartei, unterstützt wird, bis zuletzt siegessicher. »Ich bin Patriot und ein Führer der Armen. Ich glaube an Gott und an Wunder«, rief er während seiner Werbetour aus.

Sein Rivale Pranab Mukherjee hat jedoch bedeutend bessere Karten. Hinter dem 76-Jährigen steht nicht nur die erfahrene Kongresspartei, der er bereits als Außenminister, als Verteidigungsminister und als Finanzminister diente. Mit Ausnahme der regionalen Partei Trinamool Congress genießt er die Unterstützung der gesamten Vereinten Progressiven Allianz, die Indien derzeit regiert. Sogar zwei Parteien aus dem Oppositionslager, die Shiv Sena und die Janata Dal-U, wollen für ihn stimmen. Nur das von Sangma beschworene »Wunder« könnte seinen Sieg verhindern.

Prognosen, die sich auf die Parteizugehörigkeit aller Abgeordneten stützen, sehen Mukherjee mit 54 Prozent der Stimmen vorn; auf seinen Konkurrenten würden rund 30 Prozent entfallen.

Die Linken taten sich schwer, in diesem Zweikampf Position zu beziehen. Die KP Indiens wird sich der Stimme enthalten. Sie lehnt Mukherjee ab, weil er als Autor des neoliberalen Kurses der Regierung unter Premier Manmohan Singh gilt. Unter seiner Regie als Finanzminister ist die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer geworden. Die Abgeordneten der Revolutionären Sozialistischen Partei werden sich aus ähnlichen Gründen der Stimme enthalten. Keine Skrupel hingegen zeigen die KPI(Marxistisch) und der Vorwärtsblock, die Mukherjee favorisieren. Ihre Überlegung könnte sein, dass der Präsident mit überwiegend repräsentativen und zeremoniellen Aufgaben kaum Einfluss auf den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kurs der Regierung nehmen kann.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. Juli 2012

Indiens Staatspräsidenten

Die Liste der bisherigen Staatsoberhäupter Indiens reflektiert zu einem beträchtlichen Teil die soziale und regionale Vielfalt des Landes.
  • 1950-1962 Rajendra Prasad aus Bihar, Mitautor der Verfassung
  • 1962-1967 Sarvepalli Radhakrishnan aus einer Brahmanenfamilie in Madras, Philosoph
  • 1967-1969 Zakir Hussain aus Hyderabad, Paschtunen-Vorfahren aus afghanisch-pakistanischem Grenzgebiet, starb im Amt
  • 1969 Varahagiri Venkata Giri Interimspräsident, aus einer Telugu sprechenden Familie, Gewerkschaftsführer
  • 1969 Muhammad Hidayat Ullah Interimspräsident, aus Lucknow, war Indiens erster Muslim-Chefrichter
  • 1969-1974 Varahagiri Venkata Giri siehe oben
  • 1974-1977 Fakhrudin Ali Ahmed aus Delhi, starb im Amt
  • 1977 Basappa Danappa Jatti Interimspräsident, Anwalt aus Karnataka
  • 1977-1982 Neelam Sanjiva Reddy aus einer Bauernfamilie in Andhra Pradesh
  • 1982-1987 Giani Zail Singh aus einer punjabischen Sikh-Familie
  • 1987-1992 Ramaswamy Venkataraman aus Tamil Nadu
  • 1992-1997 Shankar Dayal Sharma aus Uttar Pradesh, hatte viele politische Funktionen in Madhya Pradesh
  • 1997-2002 Kocheril Raman Narayanan erster Präsident aus der Gruppe der Unberührbaren (Dalits), ging mitunter bis an die Grenzen seines Amtes
  • 2002-2007 Avul Pakir Jainulabdeen Abdul Kalam Physiker aus Tamil Nadu
  • 2007-2012 Pratibha Devisingh Patil Anwältin aus Maharashtra, erste Frau in diesem Amt



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