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Jarawa kämpfen ums Überleben

Fernverkehrsstraße bedroht indigene Gruppe auf den indischen Andamanen-Inseln

Von Hilmar König *

Auf den Andamanen-Inseln leben die letzten knapp 400 Jarawa-Ureinwohner - Jäger und Sammler, deren frühe Vorfahren aus Afrika kamen. Bis 1998 vermieden sie jeden Kontakt zur Außenwelt. Heute ist ihr Wald von einer Fernstraße zerteilt, die neben Touristen auch Wilderer und Krankheiten in ihr Reservat bringt, gegen die die Jarawa keine Immunität besitzen.

Krachend fallen die Urwaldriesen auf den Andamanen-Inseln zu Boden. In kurzer Zeit werden sie entastet, die glatten Stämme von Arbeitselefanten zur Verladestelle geschleift. Hier bugsieren von Mahouts dirigierte »Stapelelefanten« mit Füßen, Rüssel und Stoßzähnen die enorme Last unglaublich geschickt auf die wartenden Holztransporter. Ein faszinierendes Schauspiel, das man staunend verfolgt. Nur: Die meisten Besucher der Andamanen-Inseln zieht es nicht hierher in den Regenwald, sondern sie fahren zum Baden, Schnorcheln oder Surfen an die Strände. Oder es zieht sie mit gehörigem Nervenkitzel zu einer illegalen Begegnung mit den Jarawa-Ureinwohnern.

Die Jarawa liefern nach wie vor Schlagzeilen für indische Medien und erregen sogar international Aufsehen. Innenminister Palaniappan Chidambaram nutzte kürzlich einen Besuch in diesem abgelegenen Landesteil, um am Ort des Geschehens einen Eindruck zu erhalten: In Chaudhury Ghumai, wo angeblich im Jahre 2008 halbnackte Jarawa-Frauen auf Befehl von sogenannten Ordnungshütern »tanzen« mussten, hielt er sich kurz auf. Er versicherte, »dem Jarawa-Volk nichts aufdrängen oder aufzwingen« zu lassen.

Der indigene Stamm der Jäger und Sammler, der seit Tausenden Jahren in den Wäldern siedelt, lebte bis 1998 isoliert und attackierte Eindringlinge in seinen Lebensraum. Auch gegen den Bau des National Highway 223, der als »Andaman Trunk Road« bekannt ist, lehnten sich die Jarawa Ende der 60er Jahre mit Pfeil und Bogen auf. Sie ahnten, dass diese von der Süd- bis zur Nordinsel reichende, gut 300 km lange Schneise durch ihren Wald nur Unheil bringen würde. Ihre Ahnung bewahrheitete sich. Die Trunk Road wurde zur wichtigsten Verkehrs- und Transportader zwischen der Hauptstadt Port Blair und der nördlichsten Stadt Dighlipur. Tagtäglich rollen hier unzählige Holztransporte, Busse, Lastautos - und mit Touristen besetzte Kleinbusse quer durch das Jarawa-Schutzgebiet.

Auf Schildern vor der Einfahrt ins Reservat steht: »Geben Sie den Jarawa keine Esswaren. Fotografieren Sie sie nicht. Machen Sie keine Videos. Halten Sie nicht an. Das ist verboten und Sie werden bestraft, inklusive Beschlagnahme der Kamera.« Doch die Schilder schrecken nicht ab. Diese Form des besonders »prickelnden, exotischen« Fremdenverkehrs boomt. Lange Schlangen von Kleinbussen, Jeeps und Taxi beweisen das. In Port Blair kennt man die Agenturen, die solche Safaris ins Jarawa-Land verklausuliert anbieten, und die Jungs, die mit heimlich gedrehten Videos Appetit auf das angebliche Abenteuer machen. Ajai Saxena, ein Beamter in Port Blair, erklärt: »Wir haben den Tourveranstaltern verboten, zu halten. Aber wir können nicht jedes Auto kontrollieren.«

Der zuständige Polizeichef behauptet, in den letzten fünf Jahren seien über 1000 Personen festgenommen worden, weil sie illegal Kontakt zu den Eingeborenen aufgenommen hatten. Immerhin gebe es ja das Gesetz von 1956 zum Schutz der Urbevölkerung Indiens, zu der die Jarawa zweifellos gehören. Prof. Anvita Abbi von der Jawaharlal Nehru University, ein Experte für Indigene, kennt sich aus und meint, dass die sogenannten Menschensafaris trotz aller Verbote weiter durchgeführt werden: »Die Behörden wissen, dass dies geschieht.«

Ein Fotoreporter des britischen »Observer« bestätigte das jetzt aus eigenem Erleben. Er war im Dezember 2011 in Port Blair und verhandelte mit Taxifahrern über eine Fahrt auf der Trunk Road durchs Jarawa-Gebiet. Das Feilschen nahm er auf Tonband auf. Um einen Polizisten zu bestechen, damit die Fahrt problemlos und erfolgreich ablaufen kann, würden etwa 200 Euro reichen. Der Fotograf verzichtete wohl am Ende auf diese Tour. Aber er brachte ein Video mit, das er in Port Blair erstanden hatte. Es zeigt vor einem Bus »tanzende« Jarawa-Frauen mit freiem Oberkörper, die immer wieder von einer Person animiert werden, weiterzumachen, denn sie hätten ja als Vorausbezahlung schon etwas zu essen bekommen.

Dieses Dokument schlug ein wie eine Bombe und scheuchte auch die Inder auf, weil es natürlich dem Image des Landes schadet. Zwei Leute, die mit dem Reporter verhandelt hatten, sollen inzwischen festgenommen worden sein. Die Polizei sucht nach dem Mann, der das Video 2008 gedreht hatte.

Der Minister für Indigene Angelegenheiten, Kishore Chandra Deo, glaubt, es wäre völlig unfair, die Jarawa für immer in diesen »scheußlichen Verhältnissen« zu lassen. Zugleich möchte er sie nicht der sich ausbreitenden Konsum- und Junkkultur aussetzen. Immerhin hätten sie ihre Traditionen und eine Menge indigenes Wissen.

Ob Deo für eine »Assimilierung« plädiert, blieb offen. Aber eine solche wird zum Beispiel von der rechten Indischen Volkspartei (BJP) befürwortet. Assimilierung würde nach Einschätzung der Organisation Survival Internation ein Desaster und den Untergang der Jarawa bedeuten.

Die Meinungen über den Umgang mit den Jarawa gehen auseinander. Allerdings gibt es einen Konsens: Dem Urteil des Höchsten Gerichts Indiens vom Mai 2002, die Trunk Road unverzüglich zu sperren, muss endlich die Tat folgen. Damit wäre ein wesentlicher Schritt zur Rettung der Jarawa getan. Innenminister Chidambaram äußerte sich dazu aber nicht.

* Aus: neues deutschland, 31. Januar 2012


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